Lesereihe Weltenweit 

Eine Sammlung mit Literatur der Jenischen, Sinti und Roma. 
Jeder Eintrag stellt ein Buch, eine Geschichte oder ein Gedicht vor. Die Sammlung zeigt den Reichtum und die Vielfalt dieser Literaturen. Die Autorinnen und Autoren sind in vielen Ländern Europas und der Welt zu Hause und schreiben in unzähligen Sprachen. Die meisten verfassen ihre Texte in der Mehrheitssprache ihres Landes, einige auch in Romanes, wobei die Übersetzung eine wichtige Rolle  spielt. Viele Bücher sind in Kleinverlagen erschienen und zum Teil längst vergriffen. Ein Ziel ist erreicht, wenn diese Sammlung zu einer Neuauflage einiger Texte beitragen kann. 

1

Jovan Nikolić: Zimmer mit Rad. Gedichte und Prosa

Lesetipp von Viviane Egli

Das Buch des heute in Köln lebenden Roma-Dichters aus Belgrad liegt seit einigen Monaten auf meinem Schreibtisch. Seit einigen Wochen ganz zuoberst und in steter Griffnähe. Während des Arbeitens so alle zwei Tage ein Griff danach. Die Gedichte tragen weg, in andere Gegenden, andere Zeiten. Und das ist derzeit ganz besonders wertvoll.

Es ist ein schmaler Band, gut hundert Seiten, liegt leicht in der Hand, hat schweren, wunderbaren und partiell auch ironischen Inhalt – und macht reich. 

Sechs herausgegriffene Zeilen aus dem Gedicht «Magie des Klangs»:

«Vater wischt den Staub vom Saxophon,
küsst es und bläst hinein.
Beim ersten Ton
lassen die Rußbärte die Arbeit fallen,
unterbrechen die Kinder ihr Spiel,
flüchten die Frauen ins Haus, weinen sich aus.»

Und ein Ausschnitt aus dem lyrischen Kurztext «Lunge»:

«Man sagt, dass alle Zigeunermusiker lungenkrank werden, dass sie Asthma haben und Atemnot. Deshalb ist die Zigeunermusik so traurig und immer nur in Moll…
Dann wird die Luft rund um sie krank, sie steht und ist schwer und so betäubend, dass Schmetterlinge sterben und Vögel vom Himmel wehen und das Atmen zum Schluchzen wird!
Deshalb singen Zigeuner lieber, als dass sie atmen...»

Aus: Jovan Nikolić. Zimmer mit Rad. Gedichte und Prosa. Klagenfurt, Drava Verlag 2004.

 

Der Autor 

Jovan Nikolić

1955 in Belgrad geboren und in einer Romasiedlung in Čačak (Serbien) aufgewachsen, lebt Jovan Nikolić seit 1999 in Deutschland. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter zeitgenössischer Romaliteratur. Er schreibt Gedichte, Prosa und Theaterstücke in Romanes, Serbisch und auf Deutsch.

Empfehlung von Viviane Egli

Viviane Egli ist Redakteurin der Literaturzeitschrift orte und Geschäftsführerin des Kommunikationsunternehmens Primafila AG, Zürich

Folgende orte-Ausgabe ist der Lyrik von Roma, Sinti und Jenischen gewidmet:  «Auf der Milchstrasse fahren wir davon», Nr. 201, Mai 2019. Zu beziehen bei: verlag@orteverlag.ch

 


2

Mariella  Mehr: Cerberus – Vor deiner Tür | Gedichte

Lesetipp von Lilly Friedrich

Ich erlebe sie in ihrer Prosa und Lyrik sensibel, verletzlich, zärtlich, verschmitzt und auch hart wie Stein und Stahl. Und immer wahrhaftig.

Mit ihrer sprachlichen Urgewalt trifft sie mich mitten ins Herz.

Denn sie kennt alle Emotionen: Wut, Hass, Angst, Verzweiflung, Glück, Hoffnung, Freude, Humor, Ekstase und Rausch und TEILT sie MIT.

Sie fordert meinen Verstand, bewegt mich zum UM-Denken, ja sie schüttelt mich aus einer feigen Trägheit, ermuntert mich, Ungerechtigkeit anzusprechen, schenkt mir wunderbare, neue Bilder und Stimmungen, ungewohnte und faszinierende.

Mich für einen Text entscheiden? Schwierig!

Ja dann:

 

vor deiner tür
das herz abgenagt
bis auf ein paar knochen
aus glas

ein rosahirn
schäbig in seiner
formlosigkeit

bereit zur aufnahme
neuen fremden
unrats

offene hände
vor deiner tür

und ein augenzwinkern
für deine niemandszeit
die sich wie butter
auf die angst streichen lässt

worte
vor deiner tür
in der vergitterung
falscher hoffnungen und 
stürzender
welten

 

Cerberus, der Totenwache
überdrüssig, verlacht
vergnüglich eines jeden
Ziel, auch meines.

Ich, Weltenlose ohne Bilder,
lache mit.

Ängste? Vielleicht
ein fernes Ahnen von 
verspielten Zeiten.

Aus jeder Sicherheit
verworfen, von jeder Fahrt
ins Uferlose ausgeschlossen.

Was tun, mein Herz,
als fröhlich zu verwildern?

 

Aus: Mariella Mehr. Widerworte – Geschichten und Gedichte, Reden, Reportagen. 
Hrsg. von Christa Baumberger und Nina Debrunner. Zürich, Limmat Verlag 2017.

 

Die Autorin

Mariella Mehr

1947 als Angehörige der Jenischen in Zürich geboren und seit ihrer frühesten Kindheit von der Aktion «Kinder der Landstrasse» betroffen. Sie gilt als wichtigste jenische Autorin ihrer Generation. Ihr Hauptwerk ist die sogenannte «Trilogie der Gewalt», aber auch ihre Gedichte finden zunehmend Beachtung. 

Empfehlung von Lilly Friedrich

Ich bin Schauspielerin und auch Sprecherin an der Schweizerischen Bibliothek für Blinde und Sehbehinderte in Zürich. Da begegnete mir Mariella Mehr zum ersten Mal als ich 1998 ihren Roman Brandzauber aufsprach. Jetzt begegnete sie mir wieder durch Litar. An mehreren Veranstaltungen hatte ich das Vergnügen, Texte von ihr vorzutragen. In diesem Rahmen wurde mir bewusst, wie entsetzlich diese Traumata, die die Jenischen (und alle Geächteten) erleben mussten (und immer wieder erleben), die Seele unheilbar verwunden und Herzen zerbrechen.

Auch gegen das Vergessen und weil sie so fantastisch schreibt: unbedingt Mariella Mehr lesen.

 


Georgi Parushev: Irrenhaus für Zigeuner | Gedicht

Lesetipp von Wilfried Ihrig

Irrenhaus für Zigeuner

Sie zerrupften unsere Seelen
in kleine Stückchen.
Jedem von uns
ordneten sie an, zu träumen
rosarote Träume.
Dann krochen wir
unmerklich
der falschen Fürsorge zu Füßen,
die uns so dressierte,
dass sie uns für immer das Denken nahm …
Dort aber,
auf dem Weg,
auf dem die Begegnung mit unserer Zukunft sein wird,
lassen wir,
Bestien beinahe,
es nicht zu,
dass auch nur einer von uns
dem Hunger von der Schrippe springt.
Die Dompteure
kichern hinter unseren Rücken.
Mit den versilberten Schecks
ihrer erdachten Fakten
trinken sie Whisky.
Sie sind zufrieden,
am Steuer zu stehen
unserer geheimen,
rätselhaften Vergangenheit.

Wir aber
belauern uns noch immer –
wie die Irren, die
sich Orden stehlen
und Verdienste gleich dazu:
Einer erwacht
jeden Morgen als Stalin,
ein andrer als Zar,
ein dritter als Shakespeare …
Doch am Morgen kommen sie wieder.
Untersuchen uns
und stellen uns eine Diagnose.
Sie heilen uns so,
dass ihre Kinder
auch noch heilen können –
unsere Kinder …

Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm

Aus: Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti. Gedichte versammelt und ediert von Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki. Berlin, Die Andere Bibliothek 2018.

 

Ich empfehle das Gedicht «Irrenhaus für Zigeuner» von Georgi Parushev. Er schreibt über die furchtbare Psychiatrie aus der Sicht eines bulgarischen Roma-Dichters: wie gutverdienende Ärzte armen Roma vorschreiben, wie sie zu denken haben, ihnen Zwangsvorstellungen eintherapieren, psychische Deformationen, die an die nächste Generation der Roma weitergegeben werden, damit die nächste Generation der Psychiater nicht arbeitslos wird. Die Psychiater gehörten schon vor hundert Jahren, neben Anthropologen und Medizinern, zu denen, die der Verfolgung der «Zigeuner» eine «wissenschaftliche» Grundlage gaben. Sie schikanieren die Jenischen, Sinti und Roma bis in die Gegenwart, so wie sie viele Arme schikanieren, wie sie auch viele Schriftsteller schikanieren. Parushev nimmt sich nicht aus. Ich weiss nicht, ob er selbst psychiatrisch interniert war, aber wie jeder Psychiatriekritiker weiß, wäre es kein Wunder, wenn es auch diesem Autor widerfahren wäre.

Vor über dreißig Jahren habe ich den inzwischen berühmten Gedicht-Zyklus «Irrenhaus» des Expressionisten Friedrich Wilhelm Wagner neu ediert, und jetzt habe ich mich gefreut, dieses Gedicht von Georgi Parushev erstmals in deutscher Sprache edieren zu können. Als Übersetzer habe ich Thomas Frahm gewonnen, der nicht nur einer der besten deutschen Bulgarienkenner ist, sondern auch viel Erfahrung mit bulgarischen Roma hat.

Ich gehöre nicht zu den Völkern der Roma, Sinti und Jenischen, werde vielleicht manchmal als Außenstehender mit etwas Distanz bewertet, wenn ich über ihre Literatur schreibe. Ich habe zwar auch keine Kinder und war nie psychiatrisch interniert, aber ich gehöre selbst zu den psychiatriegeschädigten Autoren, deshalb bin ich für diese Empfehlung nicht ganz außenstehend, sondern mitbetroffen.

 

Der Autor

Georgi Parushev

1950 in Sliven geboren und 2018 in Sofia verstorben. Bulgarischer Rom. Lyriker und Autor von Fernsehdrehbüchern.

Empfehlung von Wilfried Ihrig

Wilfried Ihrig lebt seit 1987 als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller in Berlin. Gemeinsam mit Ulrich Janetzki ist er Herausgeber der Anthologie Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti. Die Sammlung versammelt erstmals Gedichte von Roma, Sinti und Jenischen aus allen Regionen der Welt.

 


4

Ilija Jovanović: Bündel – Vom Wegrand – Mein Nest in deinem Haar | Gedichte

Lesetipp von Melitta Depner

Zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehören die Lyrikbändchen des Romadichters Ilija Jovanović. Seine Gedichte entführen die Leserschaft in die Welt, in der er als Rom in Serbien aufgewachsen ist, d.h. in ein Leben der Armut und Ausgrenzung, aber voller Lebendigkeit. Zum anderen schildern sie seine Erfahrungen im späteren Exil, wo er sich oft als Fremder fühlte und immer wieder Diskriminierungen begegnete. Mir gefällt insbesondere die ausdrucksstarke Metaphorik der Muttersprache des Dichters, Romanes, die nicht nur seiner Liebeslyrik, sondern seiner Sprache insgesamt, eine tief anrührende Zartheit verleiht. Innere Fülle und tiefe Menschlichkeit, die in seinen Gedichten zum Ausdruck kommen, begleiteten ihn auch in den Jahren des Exils bis hin zu seinem Tod. Ilija Jovanović hat seine Gedichte in Romanes und deutscher Übersetzung geschrieben.

 

Džamila

Šukar san tu, Džamila,
sar jekh loli phabaj,
sar jekh lilija,
sar jekh vošesi gurumnjori.

Sar o ođi e terne milajeso,
kana del ando tunjariko e ivendeso.

Sar jekh, tek andar o muj mothodino, šukar
svato.

Džamila

 

Džamila

Wie schön du bist, Džamila!
Granatapfel,
Lilie,
springendes Reh.

Ein Frühlingshauch, der durch den Türspalt
in die graue Winterwohnung dringt.

Ein funkelndes Wort,
kaum ausgesprochen, fliegt es davon.

Džamila

 

Alle Gedichte liegen zweisprachig vor, in Gurbet-Romanes und Deutsch.

Ilija Jovanović, Bündel – Budžo, Gedichte – Đila. Landeck, EYE-Verlag 2000 (leider vergriffen)

Ilija Jovanović, Vom Wegrand – Dromese rigatar, Gedichte – Đila. Klagenfurt, Drava Verlag 2006

Ilija Jovanović, Mein Nest in deinem Haar – Moro kujbo ande ćire bal, Gedichte – Đila. Klagenfurt, Drava Verlag 2011

 

Der Autor

Ilija Jovanović 

Ilija Jovanović wurde 1950 in Serbien geboren und verstarb 2010 in Wien, wo er viele Jahre Obmann des Romano Centro gewesen war und sich für Bildung, Rechte und Integration der Roma eingesetzt hatte.

Empfehlung von Melitta Depner

Ich, Melitta Depner, wohne in Deutschland und übersetze seit vielen Jahren aus mehreren und in mehrere Sprachen Literatur, vor allem Lyrik. Fasziniert von diesen zweisprachigen Poesiebändchen habe ich inzwischen auch autodidaktisch Gurbet-Romanes erlernt.

 


5

Olimpio Cari: Unterwegs. Spuren einer Zigeunerkindheit

Lesetipp von Regina Füchslin

In seinem Buch Unterwegs. Spuren einer Zigeunerkindheit erzählt Olimpio Cari in Gedichten und poetischen Prosatexten aus seiner Kindheit. Von seinem ersten eigenen Anzug, einem «Traum aus Loden» mit echten Hirschhornknöpfen. Davon, wie er die Musik von frühester Kindheit an in sich aufnahm, Walzer, Märsche, Mazurken, Polkas und auch Opernstücke. Vom Grossvater, der ihn die Geheimzeichen der Zigeuner lehrte; von der Grossmutter, die ihm einen wunderschönen Platz zeigte, das Klösterle bei Laag. Vom Pferdemarkt, auf dem die Händler an Spätherbsttagen in ihren weiten, schwarzen oder grünen Mänteln aus schwerem Stoff aussahen wie riesige Vögel im Nebel. Von einem einzigen Gedanken im Kopf: «dass die Schuhe nicht nass würden. Denn ich hatte kein zweites Paar.» Vom Drang nach Freiheit; von der Trauer, beim Weiterziehen Menschen zurücklassen zu müssen; vom Entdecken neuer Welten, wenn die Erde im Frühling aufzutauen begann und sie das Winterlager verliessen:

«Für uns tat sich eine neue Welt auf: das Etschtal hinunter ins Trentino und in die Ebene, das Veneto, Friaul, Triest und Slowenien, wo wir oft bis Postojna zogen, und dann wieder  der Karst, die venetische Ebene, das Trentino, der Gardasee, die Lombardei bis Mailand und Monza und die Brianza. Bei Sonne und Regen, bei Wind, Hagel, Gewittern und Blitzen. Ohne Gewissheit. Jeder Tag ein neuer Anfang.
Das war unser Leben.»

Eine Kindheit wie die geliebten reifen Hagebutten: süss und herb zugleich.

Aus: Olimpio Cari. Unterwegs. Spuren einer Zigeunerkindheit. Aus dem Italienischen von Wolftraud de Concini (Erzählungen) und Charlotte Strobele (Gedichte). Wien, Ibera Verlag 2005 

Bild auf der Einstiegseite: Olimpio Cari, L'albero della vita (Ausschnitt)

 

Der Autor

Olimpio Cari

Der Sinto Olimpio Cari wurde 1942 in der Lombardei geboren. In seiner Kindheit zog er mit seiner Familie auf einem Zigeunerwagen von einem Ort zum anderen, grenzüberschreitend durch Südtirol, Österreich und Slowenien. Im Jahr 1985 wurde er sesshaft und lebte seitdem in Pergine Valsugana (Oberitalien). Von Jugend auf Musikant aus Familientradition und Liedermacher, begann er nach einem Besuch auf dem Grab von Marc Chagall in Saint-Paul-de-Vence (Provence) zu malen und zu schreiben. Olimpio Cari starb im März 2020. 

Empfehlung von Regina Füchslin

Regina Füchslin ist Klassische Philologin und Redakteurin der Literaturzeitschrift orte

Folgende orte-Ausgabe ist der Lyrik von Roma, Sinti und Jenischen gewidmet:  «Auf der Milchstrasse fahren wir davon», Nr. 201, Mai 2019. Zu beziehen bei: verlag@orteverlag.ch  

 


6

Ruždija Sejdović: Der Eremit. Stille und Unruhen eines Rrom | Prosa

Nebojša Lujanović: Oblak boje kože | Roman

Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki (Hrsg.): Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti | Anthologie

Lesetipps von Jovan Nikolić

«Der Eremit. Stille und Unruhen eines Rrom»: Das Buch mit Erzählungen von Ruždija Sejdović ist eine richtige Perle der Roma-Literatur. In einer frischen realistischen Sprache geschrieben, begeistert es Leserinnen und Leser mit seiner bildlichen und emotionalen Wucht. Es ist ein Buch, zu dem ich oft zurückkehre.

Nebojša Lujanovićs Roman «Oblak boje kože» (dt. etwa «Die hautfarbene Wolke») war für mich eine grosse Überraschung. Nicht nur, weil er aufregend ist, sondern, ich kann es öffentlich sagen, weil es der beste Roman über das Schicksal der Roma ist, den ich je gelesen habe. Und bei jedem Wiederlesen entdecke ich neue Details in diesem komprimierten, dicht geschriebenen Stoff. Ich würde diesen Roman gerne ins Deutsche übersetzt sehen und kann ihn jedem Literatur-Liebhaber nur empfehlen.

Der bislang umfassendste Atlas der Roma und Sinti-Poesie «Die Morgendämmerung der Worte» ist das Werk von Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki. Es ist ein Lehrbuch und ein Denkmal für die Roma-Literatur und Roma-Kultur. Wenn ich darin Gedichte lese, stelle ich immer wieder fest, dass dies ein Katalog europäischer Literatur von hoher künstlerischer Reichweite ist.

 

Ruždija Sejdović. Der Eremit. Stille und Unruhe eines Rrom. Aus dem Romanes von Melitta Depner. Köln 2017

Nebojša Lujanović. Oblak boje kože. Zaprešić (Kroatien), Fraktura 2015

Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki (Hrsg.). Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti. Berlin, Die Andere Bibliothek 2018

 

Die Autoren

Ruždija Russo Sejdović

Ruždija Russo Sejdović ist 1966 in Kuče, nahe Podgorica geboren. Montenegrinischer Rom, lebt seit 1989 in Deutschland, Köln. Er schreibt Gedichte, Kurzgeschichten und Dramen und übersetzt ins Romanes sowie aus dem Romanes.

Nebojša Lujanović

1981 in Novi Travnik, Bosnien und Herzegowina geboren, lebt in Split, Kroatien. Er studierte Politikwissenschaften und Vergleichende Literaturwissenschaft und promovierte zu zeitgenössischer kroatischer Literatur. Er schreibt Prosa, Essays und Reiseberichte.

Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki

Wilfried Ihrig lebt seit 1987 als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller in Berlin. Ulrich Janetzki ist Literaturwissenschaftler und war von 1986 bis 2014 Leiter des Literarischen Colloquiums Berlin.

Empfehlung von Jovan Nikolić

Jovan Nikolić ist 1955 in Belgrad geboren und in einer Romasiedlung in Čačak (Serbien) aufgewachsen. Seit 1999 lebt Jovan Nikolić in Deutschland. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter zeitgenössischer Romaliteratur und schreibt Gedichte, Prosa und Theaterstücke in Romanes, Serbisch und auf Deutsch.

 


7

Das Buch der Ränder: Roma-Lyrik aus Ungarn. Herausgegeben von Andrea Gyurkó und József H. Kovács

Lesetipp von Anita Awosusi

Das kleine «Buch der Ränder. Roma-Lyrik aus Ungarn» ist für mich eines meiner Lieblingsbücher geworden, weil es so wunderbar die literarische Seite der vielfältigen Sinti- und Roma-Kultur aufzeigt. Es spricht mir aus der Seele. So sind zum Beispiel Texte aus der NS-Verfolgungszeit sehr beeindruckend literarisch umgesetzt und rufen unweigerlich Empathie hervor. Aber auch die Liebeslyrik, etwa das Gedicht «Schwarzer Schmetterling» in dieser Gedichtanthologie, zeigt, dass die meisten Texte die Gefühlswelt der Sinti der und Roma beschreiben. Momente des Glücks aber auch des Leids, spiegeln sich deutlich in den Texten der Schreiber und zeigen das literarische Ausdrucksgefühl der Sinti und Roma in der Lyrik.

Aus dieser wunderbaren kleinen Gedichtanthologie habe ich u.a. in meinem langjährigen Programm mit musikalischer Umrahmung «Rom Som – Ich bin ein Mensch – Lyrik und Lieder der Sinti und Roma» gelesen und vorgetragen.

Ein Gedicht des Dichters Zsolt Szolnoki Csanya:

 

Schwarzer Schmetterling

Irgendeine Schärfe brennt in der Luft,
irgendeine struppige Blume
mit scharfer Zunge
schaut durch das Fenster des Sinnenrausches.
Wie die schwarzen Windmotten der Nacht
fliegen deine Haare
und ich seufze
nach deiner, von meinem glühenden Hemd,
auf meine Hüfte fallende Sternenhandfläche.
Jetzt rollt
die Dämmerung die Ebenholzperlen zwischen deine
Schenkel
und die Motten spinnen
Seufzer auf ihre Schwingen.


Aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt von Andrea Gyurkó
unter Mitarbeit von Cecile Gordon

 

Kali Paparuga

Vareso trajol phabol ando ajer
vareso krecoj
churakemoski – luludyi
dikhel perdal
perdal pe doroski felystra
sar aratyaki kali-balvalake paparugi
uran zan tyebalenca,
thaj me pharipephurdav
pa muro zharosko-gad
pemurosholdo pelicherhaj-palmasa
akanak,
kana mashkar tye tatepulpi pizdel
peske kale bishiri a ratyi
thaj khuven pe penge phaka vile
paparugi jagale phare odya.


Aus dem Ungarischen ins Romanes übersetzt von Endre Bihari

Aus: Das Buch der Ränder: Roma-Lyrik aus Ungarn. Herausgegeben von Andrea Gyurkó und Jozsef H. Kovács. Klagenfurt, Wieser Verlag 1999

Die Anthologie versammelt sieben Roma-Dichterinnen und Dichter aus allen Regionen Ungarns: József Choli Daróczi, Gyula Horváth, Mónika Kalányos, József Kovács, Gusztáv Nagy, József Rigó und Zsolt Szolnoki Csanya. Sie schreiben grossteils ungarisch. Für diese Anthologie wurden die Gedichte ins Deutsche und ins Romanes übersetzt.

 

Der Autor

Zsolt Szolnoki Csanya

1962 in Miskolc/Ungarn als Sohn ungarischer Roma-Eltern geboren, lebt heute in Budapest. Er ist von Beruf Grafiker, Maler und Dichter. Viele seiner wunderschönen Gedichte wurden in diversen ungarischen Anthologien und Journalen veröffentlicht, seine Grafiken werden regelmässig in renommierten Galerien in Ungarn ausgestellt.

Empfehlung von Anita Awosusi

Sintezza aus Deutschland. Autorin, Herausgeberin, Musikerin und Bürgerrechtlerin, die sich für die Rechte der Sinti und Roma einsetzt. Anita Awosusi ist Autorin mehrerer Bücher und Aufsätze zum Antiziganismus sowie zur Musik der Sinti und Roma. Sie war als Leiterin des Referats Dialog und als Vorstandsmitglied des Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg tätig.

 


8

Simone Schönett: Andere Akkorde | Roman

Lesetipp von Heidi Schleich

Simone Schönett schildert in ihrem Roman Andere Akkorde auf zweihundertfünfzig Seiten eine bezaubernde Idee für einen neuen Staat. Nicht ein Territorium, nicht Landbesitznahme, nicht Kriegstreiberei stehen am Beginn des neuen Staates. Vielmehr sind es zahlreiche Reisen, viele Gespräche und Diskussionen und nicht zuletzt der Mut anders zu denken, der einen neuen Staat ermöglichen soll. Es entsteht eine Kumpania, in der Roma, Sinti und Jenische aus ganz Europa zusammenfinden und die Utopie eines Staates ohne Territorium planen und auf die Welt bringen. Spannend und hoffnungsfroh, wenngleich nicht alles gelingt…

Die folgende Passage gibt einen Eindruck:

«Weshalb mahnt Mattea nun zur Vorsicht mit den Worten? Mobilisieren klinge so militant. Und der eigene Staat, da schwinge trotz allem Unbehagen mit.

Was meint sie?

‹Was wir darüber denken und reden›, sagt sie ‹das ist eine Sache, aber wie das bei den Nicht-Roma ankommen wird, ist eine andere. Für uns ist das normal, kein Land zu haben, keines zu wollen. Uns ist klar, Land kann man nicht besitzen, der Boden unter den Füßen kann niemandem gehören, der Wunsch danach klingt verwerflich wie der Wunsch, den Leib der Mutter zu begehren. Aber bei denen, die sich Lebensraum ohne abgestecktes Gebiet nicht vorstellen können, für die Boden und Nation untrennbar zusammen gehören, kann das landlose Konzept leicht zu Missverständnissen führen.›

‹Was willst du damit sagen? Dass die Gadsche uns am Ende daraus einen Strick drehen könnten? Oder dass wir es gar selber tun, indem wir nach dem verlangen, was uns zusteht, gleiches Recht, gleiches politisches Gehör, gleiche Lebensbedingungen?›

‹Nein, es ist nur – ach ich weiß nicht, vielleicht habe ich einfach nur Angst, dass wir am Ende alles noch verschlimmern.›»

Aus: Simone Schönett. Andere Akkorde. Klagenfurt / Celovec, Verlag Johannes Heyn (Edition Meerauge) 2018

Von Simone Schönett ist vor kurzem erschienen: Das Pi der Piratin. Wien, Edition Atelier 2020

 

Die Autorin

Simone Schönett

1972 geboren, studierte Romanistik, Pädagogik und Medienkommunikation und lebt als freie Schriftstellerin nahe Villach in Österreich. Sie schreibt Prosa, Lyrik sowie dramatische Texte und erhielt zahlreiche Preise und Anerkennungen. Der Roman Andere Akkorde schliesst eine Trilogie zur Geschichte und Kultur der Jenischen in Österreich ab.

Empfehlung von Heidi Schleich

Linguistin, lebt und arbeitet in Innsbruck, seit den 1990er Jahren mit dem Thema Jenische beschäftigt, mit viel Herz dabei und bis 2006 begleitet von Prof. Romed Mungenast als Lehrer. Mitorganisatorin beim Jenischen Kulturtag in Innsbruck (seit 2016, Initiative Minderheiten Innsbruck) und Mitbegründerin der Initiative zur Anerkennung der Jenischen in Österreich (2019). Neben Publikationen in diversen Büchern und Zeitschriften erschien 2018 die 3. und neu bearbeitete Auflage des Buches Das Jenische in Tirol, EYE-Verlag, Landeck, 2018, Vertrieb über die Autorin: almheidi@gmx.at

 


9

Clo Meyer: Unkraut der Landstrasse

Lesetipp von Willi Wottreng

Ein ungewöhnliches Werk über die jenische Volksgruppe. Die Studie ist geschrieben von einem Autor, in dessen Herkunftsumfeld Graubünden sich offensichtlich immer Jenische bewegten, mit denen man in Kontakt kam. Clo Meyer stammte aus dem Oberengadin. Seine frühe Lizenziatsarbeit aus dem Jahr 1988 gilt als Meilenstein der Forschung. Darin berichtet der Autor materialreich, anregend und frisch über Bündner «Sippenwanderer» – wie er sie nennt. Meyer zeichnet nach, dass diese Sippenwanderer nicht nur von den Sesshaften als «anders» empfunden worden seien, sondern dass sie sich auch von üblichen «Landfahrern» unterschieden hätten. Ein nicht bürgerliches Dasein, eine eigene «Lebensform» wie Meyer schreibt, zeichne sie aus: Das habe die Sippenwanderer in bürgerlichen Augen schon vor hundert Jahren als eigenständigen «Volksteil» in Graubünden erscheinen lassen.

 

Das Buch

Clo Meyer. Unkraut der Landstrasse. Industriegesellschaft und Nichtsesshaftigkeit am Beispiel der Wandersippen und der schweizerischen Politik an den Bündner Jenischen vom Ende des 18. jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg. Diesentis, Desertina 1988

Das Buch ist vergriffen, einzelne Exemplare können bei der Radgenossenschaft bezogen werden für 20.- CHF plus Porto: info@radgenossenschaft.ch

Empfehlung von Willi Wottreng

Willi Wottreng ist Schriftsteller und seit 2014 Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse. Sein neuer Roman Jenische Reise erscheint im Herbst 2020 im Bilgerverlag Zürich. Auch sein letztes publiziertes Werk, die wahre Geschichte über den Irokesenchief «Deskaheh» engagiert sich für die Emanzipation der Völker: Ein Irokese am Genfersee, Zürich, Bilgerverlag 2018.

 


10

Jenische Reminiszenzen. Geschichte(n), Gedichte | Anthologie

Lesetipp von Heidi Schleich, Linguistin, Autorin von Das Jenische in Tirol

Der 2006 verstorbene Professor Romed Mungenast hat 2001 mit seinem Buch Jenische Reminiszenzen eine umfassende Zusammenschau geschaffen. Das Buch funktioniert einerseits wie ein Lesebuch und könnte als solches an Schulen Verwendung finden. Die gelungene Mischung aus Geschichte, Geschichten und Gedichten, begleitet von historischen Bildern und Fotos, könnte durchaus ein Schuljahr begleiten. Andererseits versammelt Romed Mungenast in diesem Band unglaublich viele Autorinnen, Autoren und Fachleute aus verschiedenen Ländern und Regionen, angereichert durch eine sehr bunte Sammlung von Gedichten. Es wird sichtbar, wie sehr Romed Mungenast vernetzt war und warum er zu Recht als Pionier gesehen wird.

Sehr gerne blättere ich in diesem Buch und freue mich über die vielen Namen von Personen, die selbst jenische Wurzeln haben oder nicht. Alle verfügen sie über viel Wissen und bringen das Thema Jenische zum Erblühen.

 

Das Buch

Romedius Mungenast (Hrsg.). Jenische Reminiszenzen, Geschichte(n), Gedichte. Landeck, EYE-Verlag 2003 (2. Auflage)

Vertrieb über den EYE-Verlag: nitsche.g@tirol.com

Der Autor 

Romed Mungenast

1953 in Zams in Tirol geboren und 2006 in Innsbruck verstorben, war ein österreichisch-jenischer Autor. Neben seiner beruflichen Tätigkeit bei der Eisenbahn trug er ein umfassendes Archiv zur Geschichte und Kultur der Jenischen zusammen. Das Archiv ist im Schloss Landeck öffentlich zugänglich, die Überführung in das Brenner-Archiv der Universität Innsbruck ist in Planung. 2001 Mitbegründer des Jenischen Kulturverbandes, 2004 wurde er für seine Verdienste um die Geschichte, Kultur und Sprache der Jenischen vom Bundespräsidenten zum Professor der Universität Innsbruck ernannt.

Empfehlung von Heidi Schleich

Linguistin, lebt und arbeitet in Innsbruck, seit den 1990er Jahren mit dem Thema Jenische beschäftigt, mit viel Herz dabei und bis 2006 begleitet von Prof. Romed Mungenast als Lehrer. Mitorganisatorin beim Jenischen Kulturtag in Innsbruck (seit 2016, Initiative Minderheiten Innsbruck) und Mitbegründerin der Initiative zur Anerkennung der Jenischen in Österreich (2019). Neben Publikationen in diversen Büchern und Zeitschriften erschien 2018 die 3. und neu bearbeitete Auflage des Buches Das Jenische in Tirol, EYE-Verlag, Landeck, 2018, Vertrieb über die Autorin: almheidi@gmx.at

 


11

Diana Norma Szokolyai: Unter demselben Mond | Gedicht

Lesetipp von Ulrich Janetzki, Herausgeber Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti

Under the Same Moon

We are all sleeping
Under the same moon
Not just my love and I,
Though it may seem
We own the moonlight
We are all sleeping
Under the same moon
Lovers,
Wayfarers
Whores,
Thieves,
Mothers,
Sons,
Murderers
Musicians
My Love and I

 

Unter demselben Mond

Wir schlafen alle
Unter demselben Mond,
Nicht nur mein Geliebter und ich, 
Obwohl es scheinen mag,
Als gehöre uns das Mondlicht. 
Wir schlafen alle
Unter demselben Mond, 
Liebende,
Wanderer,
Nutten,
Diebe,
Mütter,
Söhne,
Mörder,
Musiker,
Mein Geliebter und ich.

Aus dem Englischen von Wilfried Ihrig

Aus: Diana Norma Szokolyai: Roses in the Snow. Cambridge & New York, Imaginary Cottage Press 2008. Die deutsche Übersetzung von Wilfried Ihrig ist bisher unpubliziert.

 

Dieses kleine Gedicht kommt so einfach und schlicht daher und ist dann doch tiefer und anmutiger, als es nach dem ersten Lesen scheint.

Diebe, Stricherinnen, Mörder, gemeinhin Ausgestossene – mit ihnen, nicht mit den Reichen oder Mächtigen, teilt man einen Himmel, als teile man auch eine warme und schützende Decke. Ein Gedanke, der beruhigt und tröstet. Folgerichtig beginnt das Gedicht mit «Wir». Und für das lyrische Ich ist es beglückend zu wissen, dass man teilen kann. Denn es ist tröstend zu wissen, dass man nicht alleine ist, dass es so etwas wie eine umhüllende Gleichheit gibt.

Die Schlichtheit dieser Zeilen rührt an angesichts einer stillen Empfindung von Aufgehobensein inmitten einer vom Mondlicht umarmten Gemeinschaft. Der sich über alles wölbende Himmel macht sie und ihren Geliebten nicht klein, unbedeutend und verletzlich, sondern an Emotionen und Glücksmomenten reicher, weil man die schützende Allgegenwart der anderen fühlt. Und sie und ihr Geliebter gehören dazu, wie zu einer Nacht-Familie, einem Zuhause. Dieses gehört allen, so wie das Mondlicht. Ich mag dieses Gedicht, weil ich beim ersten Lesen plötzlich angespannt-erregt und zunehmend fasziniert war und noch bin.

 

Die Autorin

Diana Norma Szokolyai

Diana Norma Szokolyai, geboren 1981 in den USA, amerikanische Romni, lebt in Brooklyn. Lyrikerin, Multimedia-Künstlerin, Artistic Director des Cambridge Writers’ Workshop. Bereits mit ihrem ersten Gedichtband Parallel Sparrows (2012) erhielt sie Preise und Anerkennungen. Credo. An Anthology of Manifestos and Sourcebook for Creative Writing (hrsg. mit Rita Banerjee) ist 2018 erschienen. 
Das Bild auf der Einstiegsseite zeigt ein Detail ihrer Webseite: diananorma.com

Empfehlung von Ulrich Janetzki

Ulrich Janetzki, geboren 1948, war bis 2014 Leiter des Literarischen Colloquiums Berlin. Gemeinsam mit Wilfried Ihrig hat er den Modernen Poesie-Atlas der Roma und Sinti herausgegeben.

 


12

Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Übersetzt und herausgegeben von Reinhold Lagrene

Lesetipp von Dotschy Reinhardt, Sängerin, Autorin, Sinteza

Das kleine, in rotes Leinen gebundene Buch Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes ist das erste in seiner Art.

Der von mir und vielen anderen Menschen sehr geschätzte Sinto und Bürgerrechtler Reinhold Lagrene übersetzte zum ersten Mal Klassiker der deutschen Lyrik in ein Romanes, welches mich ins Staunen brachte. So ähnlich muss ich wohl das erste Mal in James Joyces Ulysses geblickt haben, im Fluss ungewohnter, teilweise unbekannter Worte gefangen und berauscht. Noch nie las ich ein solches, auf den indischen Ursprung der Sprache (das deutsche Romanes ist durch die europäische Sprachencharta als einzigartiger Bestandteil des kulturellen Erbes Europas anerkannt und geschützt) zurückgehendes Romanes. Was ich niedergeschrieben sah, empfand ich vertraut und fremd zugleich. Vertraut, weil die Gedichte von Goethe bis Hölderlin ins Romanes der Sinti, meine Muttersprache, übersetzt wurden. Fremd, weil es sich beim Romanes (zumindest dem der Sinti) um keine Schriftsprache handelt. Umso mehr berührte mich mein erster Besuch einer Lesung von Reinhold Lagrenes Ehefrau, Ilona Lagrene. Die Gedichte, die man bislang in vertrauter Version kannte, gewannen eine ganz andere Bedeutung und Dynamik.

Als würde man ein volkstümliches Lied als Jazz Waltz interpretieren.

Die Schönheit, die diese Lyrik durch die Übersetzung Reinhold Lagrenes erlangte, kann ich als Musikerin sehr gut verstehen, auch wenn manches alte Romano-Wort mir bislang unbekannt war und ich erst einmal nachfragen musste, was es bedeutet.

Auch für Menschen, die kein Romanes verstehen, lohnt es sich diese Sprache in ihrer einzigartigen Diversität, welche die Kulturlandschaft von Indien bis Europa aufgreift, zu lesen.

 

Friedrich Hölderlin

Hyperions Schicksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien! 
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin 
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende 
Säugling, atmen die Himmlischen; 
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe, 
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen 
Blicken in stiller 
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen 
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrlang ins Ungewisse hinab.

 

Tumer pirena pral an i Momli
Ab kowli Phuw, harsadine Godsweria! 
Petschetune Devlengere-brawelia 
Tschalleren tumen lokes,
Har i Guschtia i Silpinizater
Suntale Baschedoria.

Bikrisnido, har o ssuto
Ternepen, duchena kolle Bolepangere; 
Dschudschi-laadschah rakeldo
An Bibravedi Gunduni,
Daiela saketunes
lenge i Godi,
Te i harsadine Jacka
Dikhena an pokuni
Saketuno Dschudschepen.

Doch menge wes dieno, 
Ab kek Than te atschas, 
Naschedo dschana, perena 
Kolle dughede Manuscha 
Korles jek 
Orater pasch i waber,
Har Pani Klippa
Pasch Klippa tschiberdo,
Berscha rahl an o Bidschinnepen tele.

Aus Djiparmissa, mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

Das Buch

Reinhold Lagrene (Übers. und Hrsg.). Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Heidelberg, Das Wunderhorn 2018

Der Übersetzer und Herausgeber

Reinhold Lagrene (gest. 2016) war seit den 1970er Jahren in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti aktiv. Seit der Gründung 1982 war er Vorstandsmitglied des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Anfang der 1990er Jahre war er am Aufbau des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma beteiligt. 2001 übernahm er nach langer Tätigkeit in den Landesverbänden Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz des Verbands Deutscher Sinti und Roma die Leitung des Referats Bildung im Dokumentationszentrum. Lagrene hatte großen Anteil daran, dass Teile der Sinti-Erzählkultur verschriftlicht wurden.

Ilona Lagrene wurde in Heidelberg als Kind von Überlebenden des NS-Völkermords geboren. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Reinhold Lagrene gehört sie zu den treibenden Kräften der Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma in Baden-Württemberg und bundesweit. Durch ihr politisches und erinnerungspolitisches Engagement hat sie in Baden-Württemberg nachhaltige Meilensteine gesetzt.

Empfehlung von Dotschy Reinhardt

Dotschy Reinhardt ist Sängerin, Autorin, Sinteza und Vorsitzende des Landesrats der Roma und Sinti, RomnoKher Berlin-Brandenburg e.V. Seit 2003 lebt sie in Berlin und hat vier CDs und zwei Bücher veröffentlicht. In ihrem ersten Buch arbeitete sie die Geschichte ihrer Sinti-Familie in Deutschland auf. Ihr zweites Buch Everybody's Gypsy: Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt geht auch der Frage nach, warum Roma, so auch deutsche Sinti, immer noch diskriminiert, kriminalisiert und in Klischees gepresst werden.

 


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József Holdosi: Die gekrönten Schlangen | Roman

Lesetipp von Karl-Markus Gauß, Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik

 

«Vater, ich mag nicht mehr in der Kapelle spielen, gib mich frei», flehte der mittlere Sohn, Ernö, den alten Kánya an. «Ich halt's nicht mehr aus, Vater, meine Seele erstickt daran, immer wieder dasselbe zu spielen, mir von den Gästen Hunderter in den Bogen stecken zu lassen und mich dafür zu verneigen. Ich habe Kopfschmerzen, lass mich zu Hause bleiben, in meinem Zimmer, zwischen meinen Liedern.»

 

2014 erschien die deutsche Übersetzung dieses wilden und poetischen Romans aus Ungarn, der von Armut, Verfolgung, Alkoholismus, Gewalt erzählt, aber auch vom Anspruch der Protagonisten, ein besseres Leben zu gewinnen. Auf faszinierende Weise verbindet der Autor József Holdosi kruden mit magischem Realismus, die schmerzend genaue Beschreibung des Elends mit dem Wunder, das alle Tage in das Leben hereinwirkt. Immer waren die Angehörigen der Familie Kányá als Musiker erfolgreich, sie verdienten gutes Geld, wenn sie für die Gadsche bei Hochzeiten aufspielten. Dennoch kommen sie aus ihrer Strasse des Elends am Rande eines Dorfes in der Provinz nicht heraus, bleiben Gezeichnete, für die es ums nackte Überleben geht, kaum dass der ungarische Rassismus im Zweiten Weltkrieg politisch mobil macht. Aber nicht nur um diese Drangsal geht es, sondern auch um die inneren Konflikte der Familie. Die Jungen möchten nicht mehr auf die alte Weise leben, sich der Autorität des Vaters beugen, die Last der Traditionen weitertragen. Und der hochbegabte Ernö will endlich wahre Roma-Musik machen, nicht das, was die Gadsche dafür halten, er bricht aus, verlässt die Kapelle des Vaters und begibt sich auf die Suche nach der «Urmusik der Zigeuner», dieser «jahrtausendealten Musik, die später von dem Geld beschmutzt worden war, für das wir sie verkauft hatten». Der früh verstorbene Jozséf Holdosi hat einen bitteren, aber keinen düsteren Roman verfasst; er prangert das Elend an und preist die Liebe, den Trotz, den Lebensmut, die Sehnsucht. Das ist kein schwarzer Kitsch des Untergangs, sondern farbenprächtige Prosakunst, magischer Realismus aus Europa.

 

Das Buch

József Holdosi: Die gekrönten Schlangen. Aus dem Ungarischen von Peter Scharfe. Mit einem Nachwort von Beate Eder-Jordan. innsbruck university press, Innsbruck 2014. Das Buch ist vergriffen, es kann allenfalls antiquarisch bezogen werden, z.B. über die Hirschmatt-Buchhandlung in Luzern.

Der Autor

József Holdosi

1951 im westungarischen Vép in eine Musikerfamilie geboren. József Holdosi nutzte die Chancen, die ihm das Erziehungssystem der Volksdemokratie bot, schloss das Gymnasium in Pécs, das Studium in Budapest ab und wurde in Szombathely Gymnasiallehrer für Ungarisch und Geschichte. Er unterrichtete bereits einige Jahre, als er gewahr wurde, dass seine Kollegen hinter seinem Rücken über ihn nicht wie von einem der Ihren, sondern von dem «Zigeuner» sprachen. Dies war sein spätes Erweckungserlebnis, denn nun entdeckte er seine Herkunft neu, bekannte sich zu ihr und erkundete schon in seinem ersten Roman schonungslos und doch warmherzig die Geschichte seiner eigenen Familie. Er starb als anerkannter Lyriker und Erzähler vor der Zeit mit 54 Jahren.

Empfehlung von Karl-Markus Gauß

Jahrgang 1954, lebt als Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik in Salzburg. Ausser vielen Journalen, Prosabänden, Essays hat er sechs Bücher mit Reiseprosa veröffentlicht, in denen er von den kleinen Nationalitäten an den Rändern Europas erzählt. Sein Buch über eine Reise zu den Roma in den Slums der Ostslowakei, Die Hundeesser von Svinia, erregte 2004 grosses Aufsehen. Zuletzt erschien von ihm die Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer im Paul Zsolnay Verlag, Wien (ab Herbst 2020 als Taschenbuch im Unionsverlag).

 


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Jo Mihaly: Michael Arpad und sein Kind / Hüter des Bruders | Romane

Lesetipp von Martin Dreyfus, Buchhändler und Lektor

Jo Mihaly ist ein Nom de plume oder auch der Künstlername für Elfriede Alice Steckel-Kuhr. Geboren wurde Jo Mihaly 1902 in Schneidemühl an der damaligen deutsch-polnischen Grenze. Dort wuchs sie bei ihren Grosseltern auf. Sehr bewusst erlebte sie den Ersten Weltkrieg, 1982 ist das damals von ihr geschriebene Tagebuch veröffentlicht worden. Seit 1927 schrieb sie Gedichte und konnte erste Veröffentlichungen in der von Gregor Gog und der Vagabundenbrüderschaft herausgegebenen Zeitschrift Der Kunde publizieren. In den Jahren der Weimarer Republik führte sie zeitweise selber ein Leben als Vagabundin. Seit dieser Zeit engagierte sie sich für die Rechte Fahrender.

Bis 1933 trat sie in Varietés, im Zirkus und auf Bühnen als Tänzerin auf. Sie hielt Kontakte zu und solidarisierte sich mit den sogenannten Vaganten, verkehrte u.a. mit Rudolf Rocker, Jonny Rieger, Anni Geiger und vor allem mit Gregor Gog, der als Monsieur Gregor auch in Michael Arpad zur Darstellung kommt. 1933 emigrierte Jo Mihaly (zusammen mit dem Schauspieler Leonard Steckel) nach Zürich, wo sie sich u.a. in der «Kulturgemeinschaft der Emigranten» engagierte. Bald nach Kriegsende, inzwischen von Leonard Steckel getrennt, nach Deutschland zurückgekehrt, war sie in der Erwachsenenbildung tätig. Enttäuscht von der gesellschaftlichen Entwicklung im Nachkriegsdeutschland kehrte sie bereits 1949 in die Schweiz zurück und liess sich in Ascona nieder. Jo Mihaly starb 1989.

Obwohl Jo Mihaly selber weder den Sinti, den Roma oder Jenischen zugehörte, sind ihre beiden Bücher Michael Arpad und sein Kind (1930) und Hüter meines Bruders (1942) eng mit dem Schicksal der «Zigeuner», einer Bezeichnung, an der zur Zeit der Niederschrift und Veröffentlichung kaum Anstoss genommen wurde, verknüpft.

In Michael Arpad und sein Kind. Ein Kinderschicksal auf der Landstrasse, mit diesem Untertitel wurde das Buch in der Neuauflage von 1981 ergänzt, erzählt Jo Mihaly das Leben Michael Arpads, der mit seiner Tochter Mascha über die Landstrassen aus einem Dorf in Frankreich über Deutschland bis nach Wien zieht. Jo Mihaly hat dieses Buch mit eigenen farbigen naiven Illustrationen begleitet, die einen zusätzlichen Eindruck vom einfachen Leben auf der Landstrasse ermöglichen. Als «karg» möchte ich dieses Leben keineswegs bezeichnen, denn es wird ein «reiches»Leben – nicht an Besitztümern, aber an Eindrücken – lebendig. Zu anderen Zeiten hätte man dieses Buch vielleicht auch als «Entwicklungsroman» bezeichnet: In berührenden Schilderungen erleben wir das Schicksal der heranwachsenden Mascha.

In Ihrem erstmals 1942 in der Schweiz publizierten Roman Hüter des Bruders – das Buch erscheint nach dem Krieg unter dem Titel: Gesucht: Stephan Varescu – begeben wir uns auf die Spur eines aus dem Gefängnis geflohenen Revolutionärs der von «Fahrenden» gastlich aufgenommen und vor der Verfolgung durch Polizei und Militär beschützt und versteckt wird. Obwohl Regierung und Militär mit allen Mitteln versuchen des Revolutionärs, der vor allem unter der Landbevölkerung viele Anhänger hat, erneut habhaft zu werden, scheitern alle Versuche am Widerstand der Sippe, die Varescu schützt und durch die Abwehr selber einen hohen Preis bezahlt. Jo Mihaly berichtet in diesem Buch zwar romanhaft aber nach tatsächlichen Begebenheiten und nimmt, wie auch schon in Michael Arpad, erneut Partei für die «Rechtlosen».

Wer immer sich für das Leben der Fahrenden in der Zwischenkriegszeit interessiert, sich von deren Sorgen und Nöten wie von deren «innerem Reichtum» vor rund 100 Jahren ein Bild machen möchte, dem sei die Lektüre beider Bücher empfohlen.

 

Die Bücher

Jo Mihaly. Michael Arpad und sein Kind. Mit sechs Bildern der Autorin. Stuttgart, Gundert 1930. Neuausgabe: Berlin, LitPol 1981

Jo Mihaly: Hüter des Bruders. Zürich, Steinberg 1942

Verschiedene Neuausgaben unter dem Titel: Gesucht Stefan Varesku. München, Paul List 1959; Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1989 u.a.a.O.

Empfehlung von Martin Dreyfus

Martin Dreyfus, geboren und aufgewachsen in Basel, ist ausgebildeter Sortiments- und Verlagsbuchhändler, Lehrbeauftragter und Kursleiter. Lebt als Sammler und «Bibliothekar» seiner zunehmenden Bestände bei Zürich und arbeitet freiberuflich als Lektor und literarischer Spaziergänger in Zürich, dem Engadin, dem Tessin, in Davos, Meran, Prag, Triest, Lemberg und weiteren Destinationen.

 


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Werner Kofler: Tiefland, Obsession | Prosastück

Lesetipp von Simone Schönett, Schriftstellerin

Tiefland, Obsession ist eine wütende Tirade über die Produktion des Films Tiefland von Leni Riefenstahl aus den Jahren 1940 und 1941. Roma und Sinti, Erwachsene und Kinder, aus den Lagern Salzburg-Maxglan und Berlin-Marzahn wurden als Kleindarsteller*innen zwangsverpflichtet – und etliche von ihnen nach Beendigung der Dreharbeiten in Auschwitz ermordet. Riefenstahl hat nicht nur den Film, der 1954 zur Weltpremiere kam, als Beweis dafür eingebracht, dass sie sich während des Dritten Reiches in innerer Emigration befand, sondern auch immer behauptet, den «entliehenen Zigeuner-Komparsen» sei nach Ende der Dreharbeiten nichts zugestossen. Erst 2002 erwirkte eine überlebende Statistin eine Unterlassungserklärung der Regisseurin.

Der österreichische Schriftsteller Werner Kofler hat mit dem formal und historisch äußerst präzise gearbeiteten dreizehnseitigen Prosatext den zwangsverpflichteten, inhaftierten, internierten, ermordeten Roma und Sinti ein literarisches Denkmal gesetzt. In Tiefland, Obsession erhalten sie ihre Würde zurück, ihre Namen: «…post mortem, nach Cannes eingeladen, zu den Filmfestspielen, die kleine Blach Josefine, die noch kleineren Kugler Kreszentia und Amberger Willi, die Herzenberger und Lichtenberger, Reinhardt und Winter und weitere Lagerinsassen als Kleindarsteller in TIEFLAND...».

So behutsam und akribisch, wie Werner Kofler – «Literatur ist Verbrechensbekämpfung» – den Opfern ein Monument setzt, so virtuos und furios rechnet er, «Meister der üblen Nachrede», nicht nur mit Leni Riefenstahl ab, die in dem Film auch die weibliche Hauptrolle spielt, sondern auch mit «künstlerischen Mittätern und Sympathisanten». Wie etwa dem späteren Karl-May-Verfilmer Harald Reinl oder mit Jean Cocteau: «Bewunderer des Filmgenies Riefenstahl», der, um das NS-Machwerk 1954 in Cannes vorzuführen, «höchstselbst die französischen Untertitel beigesteuert hat».

 

Das Buch

Tiefland, Obsession. Zweites Prosastück in: Zu spät, Sonderzahl Verlag, Wien 2010

Der Autor

Werner Kofler

1947 in Villach geboren  und gestorben 2011 in Wien, war ein österreichischer Schriftsteller. Vielfach ausgezeichnet hat er über 20 Bücher veröffentlicht, zumeist Prosawerke, in denen er die Techniken der Collage und Montage als Mittel der Sprach- und Gesellschaftskritik perfektionierte. Tiefland, Obsession ist sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Prosastück.

Empfehlung von Simone Schönett

1972 in eine jenische Familie in Villach geboren, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin in Kärnten/Österreich. Diverse Auszeichnungen und Literaturpreise. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt 2018 den Roman Andere Akkorde und 2020 den Prosaband Das Pi der Piratin (Edition Atelier, Wien).

 


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Edward Dębicki: Totenvogel | Erinnerungen

Lesetipp von Erich Hackl, Schriftsteller

Es gibt nicht viele Lebenszeugnisse über den gemeinsamen Überlebenskampf von Juden und Roma in den von Nazideutschland verwüsteten Ländern Osteuropas. Edward Dębickis Kindheitserinnerungen sind eine dieser Ausnahmen und schon deshalb lesenswert, weil sie das Ausmass an Solidarität, Nächstenliebe und Barmherzigkeit von Menschen erkennen lassen, die einander beistehen, und sei es für ein paar Minuten, eine Stunde, die eine Nacht, nach der sich ihre Fluchtwege wieder trennen. Denn für sie gilt der Spruch, mit dem Edwards Vater Niunia andere von Tod und Deportation Bedrohte in den ständig wechselnden Verstecken der vielköpfigen Familie, in den Wäldern und Sümpfen Wolhyniens, aufgenommen hat: «Ihr könnt bei uns bleiben, denn in Gemeinschaft verreckt sich’s fröhlicher.»

Überhaupt ist Menschenliebe das zentrale Thema dieses ungemein anschaulichen Tatsachenberichts, den man atemlos, in höchster Spannung, und zugleich mit dem Bedürfnis liest, das Ende der Lektüre möglichst lange hinauszuzögern: weil Dębicki neben all den unfassbaren Greueltaten, die er mit sechs, sieben, acht Jahren miterleben musste, neben dem Hunger, der Kälte, dem Elend, der Flucht vor den Deutschen und den ukrainischen Bandera-Banditen auch die Heiterkeit zur Sprache bringt, den Sinn für die Schönheit der Natur, die Freude an Musik, an Pferden, an der Wahrsagekunst seiner Mutter Jedwodia ebenso wie das Mitleid mit Tieren, einem verwaisten Rehkitz zum Beispiel, das die Kinder mit ein paar Tropfen Milch aus der Brust ihrer stillenden Mutter durchzubringen suchen, während sie sich selbst von Brennesseln, Wachs, Blau- und Erdbeerblättern ernähren und jeden Moment gewärtig sein müssen, überfallen und massakriert zu werden.

Dębicki macht nicht viel Aufhebens um sich und seine Familie – und doch teilt sich sein Stolz mit, auf die Eltern, die Geschwister, den Tross, die ganze Sippe, «die guten Zigeunerfamilien entstammte». Das Glück auch, nicht auf Kosten anderer überlebt zu haben. Und natürlich die Würde.

 

Das Buch

Edward Dębicki: Totenvogel. Erinnerungen. Mit einem Gedicht von Bronisława Wajs-Papusza. Aus dem Polnischen von Karin Wolff. Friedenauer Presse, Berlin 2018

Der Autor

Edward Dębicki 

geboren 1935 in Kałusz (heute Kalusch, Ukraine), besuchte nach der Befreiung von der Naziherrschaft mehrere polnische Musikschulen und feierte als Komponist, Akkordeonist und Leiter des Ensembles «Terno» grosse Erfolge. Seine Tante war die grosse Roma-Dichterin Bronisława Wajs, «Papusza» genannt, deren Nachlass er an seinem und ihrem Wohnort Gorzów Wielkopolski bis heute mit einer Stiftung pflegt.

Die Übersetzerin

Karin Wolff

1947 in Frankfurt an der Oder geboren und 2018 ebenda verstorben, war eine deutsche Verlagslektorin und literarische Übersetzerin aus dem Polnischen. Sie hat mehr als 200 Werke aus dem Polnischen übertragen und wurde für ihre Vermittlungstätigkeit vielfach ausgezeichnet. Karin Wolff ist dafür zu danken, dass sie mit ihrer glanzvollen Übersetzung nicht nur den Totenvogel deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht, sondern ihn durch einen Auszug aus Papuszas grossem Poem Blutige Tränen. Was wir unter den Deutschen in Wolhynien im 43. und 44. Jahr erduldet vertieft und ergänzt hat.

Empfehlung von Erich Hackl

Schriftsteller in Wien und Madrid. Herausgeber u.a. von Zugvögel seit jeher. Freude und Not spanischer Zigeuner (mit Willy Puchner, 1987), Autor der Erzählung Abschied von Sidonie (1989). Letzte Buchveröffentlichung: Im Leben mehr Glück. Reden und Schriften (2019).

 


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Willi Wottreng: Zigeunerhäuptling | Biografie

Lesetipp von Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft

Das Buch von Willi Wottreng ist ein Porträt meines Vaters Robert Huber, des langjährigen früheren Präsidenten der Radgenossenschaft. Aber es ist viel mehr als das. Es zeichnet nach, wie die Jenischen in den 1970er Jahren die erlebten Familienzerreissungen anprangerten, wie sie sich zu organisieren begannen, wie sie die ersten Plätze besetzten. Kurz: Leserin und Leser erhalten den besten Überblick über die Geschichte und die Kultur der Jenischen in der Schweiz; wir pflegen das Buch Gästen in unserem Begegnungszentrum in Zürich-Altstetten als Geschenk zu überreichen. Als Einführung ins Thema oder zur Vertiefung. Denn sie erhalten keinen besseren Panoramaüberblick über das Volk der Jenischen.

 

Das Buch

Willi Wottreng: Zigeunerhäuptling. Vom Kind der Landstrasse zum Sprecher der Fahrenden – Das Schicksal des Robert Huber. Orell Füssli Verlag, Zürich 2010. Erhältlich beim Sekretariat der Radgenossenschaft für SFr. 20.- plus Versandkosten, info@radgenossenschaft.ch

Der Autor

Willi Wottreng 

Schriftsteller und Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse. Er hat Sachbücher über Menschen am Rand geschrieben (etwa über den Rockerboss Tino und über die Prostituierte Lady Shiva) und sich dann dem literarischen Schreiben zugewandt. Ein Jenischer spielt im Schelmenroman Lülü eine Hauptrolle (2015), ein Indianer in Ein Irokese am Genfersee (2018). Im Herbst 2020 erscheint von ihm die grossse Erzählung Jenische Reise (alle im Bilgerverlag).

Empfehlung von Daniel Huber

Daniel Huber ist seit 2009 Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz und zugleich der ältesten bestehenden Selbstorganisation dieser Volksgruppen in Europa. In seiner Zeit als Präsident haben die Jenischen und Sinti die Anerkennung als nationale Minderheit der Schweiz erlangt.

 


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Samuel Mago und Mágó Károly: Glücksmacher – e baxt romani. Kurzgeschichten aus der Welt der Roma

Lesetipp von Katharina Graf-Janoska, Autorin und Redakteurin mit Roma-Wurzeln

Ich habe Samuel Mago vor einigen Jahren kennen gelernt und er hat mich gleich tief beeindruckt. Selten habe ich jemanden kennen gelernt, der rhetorisch so versiert ist und ein so selbstbewusstes Auftreten hat, obwohl er erst 1996 geboren wurde. Mittlerweile gehört er zu den herausragendsten Roma-Aktivisten Österreichs. Und für mich persönlich auch zu den herausragendsten Literaten. Umso mehr freute ich mich auf sein Erstlingswerk Glücksmacher – e baxt romani, das er gemeinsam mit seinem Bruder Mágó Károly in Deutsch und Romanes veröffentlichte. Es handelt sich um eine Sammlung von 13 Kurzgeschichten aus der Welt der Roma, wie sie es selbst formulieren. Tatsächlich sind es innerhalb der Familie tradierte Geschichten, die hier festgehalten wurden. Teils fantastisch, teils tragisch werden Schicksale von Menschen erzählt, die auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück sind. Mich begeistert Roma-Literatur, die nicht nur anklagt und Roma als Opfer darstellt, obwohl sie dies zweifelsohne oft genug waren. Ich schätze die selbstbestimmten Geschichten, die von Hoffnung und Glück erzählen, ohne sich dabei in Stereotypen und Stigmatisierung zu verlieren. Genau dies habe ich in diesem Buch wahrgenommen. Die Sprache der Brüder Mago reiht sich in die bildhafte Erzähltradition der Roma ein, und doch heben sie diese auf eine neue poetische Ebene. Als Leser verliert man sich schnell in diesen magischen Welten, die vom Schicksal erzählen, und dann plötzlich wird man wieder in die harte Realität der Roma zurückgeholt.

«werde glücklich. so grüßen wir uns. weil wir von beginn an davon ausgehen, dass wir roma kein glück haben. dass wir nicht glücklich sind. dass wir unser glück erst machen müssen.» (aus Glücksmacher, S. 9)

 

Das Buch

Samuel Mago und Mágó Károly: Glücksmacher – e baxt romani. Kurzgeschichten aus der Welt der Roma. Zweisprachig: deutsch/romanes. Edition Exil, Wien 2017

Die Autoren

Samuel Mago und Károly Mágó

Die Brüder Samuel und Károly Mago stammen aus einer Roma-Familie mit mütterlicherseits jüdischen Wurzeln. Károly wurde 1981 und Samuel 1996 in Budapest geboren. Károly lebt als Journalist in Budapest und setzt sich ehrenamtlich für Roma-Jugendprojekte ein. Samuel lebt als Schriftsteller, Journalist, Musiker und Aktivist in Wien. Neben seinen literarischen Tätigkeiten engagierte er sich im Romano Centro. 2015 erhielt er den exil-jugend-literaturpreis für seine Erzählung Zeuge der Freiheit.

Empfehlung von Katharina Graf-Janoska

Katharina Graf-Janoska, geboren 1988 in Eisenstadt, Burgenland, ist Autorin und ORF-Moderatorin/Redakteurin mit Roma- und Tiroler-Wurzeln. Sie studierte Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und schrieb ihre Abschlussarbeit über Literatur von und über Roma.

 


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Katharina Janoska: KriegsROMAn. Die Geschichte einer Familie

Lesetipp von Jakob Michael Perschy, Autor und Bibliotheksleiter

Gute Bücher möchte ich in zwei Kategorien einteilen: Ankerbücher und Bojenbücher. Die Anker sinken schwer in tiefste Tiefen, graben sich in den Grund und bleiben dort für immer, sie wollen und werden nicht vergessen werden. Die Bojen schwimmen an der Oberfläche, aber sie zeigen dir, wo es tief wird und dich zwingt, dich über deine eigene Position klar zu werden. Die besten Bücher sind beides zugleich. Dazu gehört für mich auch der KriegsROMAn von Katharina Janoska. Sie, die mit sechzehn Jahren beschlossen hat, einmal Schriftstellerin zu werden, weil sie feststellen musste, dass die hauptsächlich von Nichtangehörigen der Volksgruppe verfasste Literatur über Roma, selbst wenn deren Schreiben durchaus von Sympathie getragen war, meist am Kern der Roma-Wirklichkeiten vorbei erzählt wurde. Der Roman schildert authentische Familiengeschichte, die sich in Form der beiden Grossväter polarisiert. Tiroler Nazimitläufer der eine, der andere verfolgter Rom aus Bratislava. Schon diese Ausgangslage, die jede Schwarzweissmalerei verunmöglicht, macht den Roman zum Bojenbuch. So wie es geschrieben ist, wird sich das Buch auch tief im Herzen der Leserin, des Lesers verankern.

 

Das Buch

Katharina Janoska: KriegsROMAn. Die Geschichte einer Familie. Bu&Bu Verlag, Frauenkirchen 2019

Die Autorin

Katharina Janoska 

geboren 1988 in Eisenstadt, Burgenland, ist Autorin und ORF-Moderatorin/Redakteurin mit Roma- und Tiroler-Wurzeln. Sie studierte Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und schrieb ihre Abschlussarbeit über Literatur von und über Roma.

Empfohlen von Jakob Michael Perschy

Jakob Michael Perschy lebt in Neusiedl am See. Er studierte Europäische Ethnologie und Deutsche Philologie, ist Leiter der Burgenländischen Landesbibliothek in Eisenstadt und hat Bücher gelesen, verliehen, verkauft, lektoriert, redigiert, herausgegeben und selber geschrieben.

 


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Robert Domes: Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa | Jugendbuch

Lesetipp von Ursulina Gruber, Jenische und Berufsschullehrerin

Das Buch Nebel im August berichtet vom kurzen Leben eines jenischen Jungen, der am 9. August 1944 im Alter von 14 Jahren von den Nazis mittels zweier tödlicher Spritzen umgebracht wird. Der Autor hat die Geschichte gut recherchiert und scheint sich vertieft mit der jenischen Kultur auseinandergesetzt zu haben. Gut informiert beschreibt er die Kinderliebe der Jenischen, das Wertvolle der jenischen Kultur, die jenische Widerständigkeit und den Lebensmut des Ernst Lossa. Der Junge wird als schlitzohrig und clever beschrieben, aber auch als stolz darauf ein Jenischer zu sein. Das, so erlebe ich es, zeigt eine typische Seite von uns Jenischen. Das Buch ist äusserst lesenswert, die Geschichte stimmt nachdenklich.

 

Das Buch

Robert Domes: Nebel im August. Die Lebensgeschichte von Ernst Lossa. München, cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag, 2008

Der Autor

Robert Domes

geboren 1961 im bayerischen Ichenhausen, studierte Politik und Kommunikationswissenschaften in München. Er arbeitete jahrelang als Redakteur bei der Allgäuer Zeitung, zuletzt als Leiter der Lokalredaktion in Kaufbeuren, bevor er sich 2002 als Journalist und Autor selbstständig machte.

Empfehlung von Ursulina Gruber

Jenische mit einer «Kinder der Landstrasse»-Vergangenheit. Berufsschullehrerin im Gesundheitswesen. Aktives Mitglied der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende.

 


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Engelbert Wittich: Kasper als Diener | Kasperlstück

Lesetipp von Venanz Nobel, jenischer Menschenrechtler und Aktivist

Der 1878 im Schwarzwald-Dorf Lützenhardt geborene Wittich war in der jenischen Gemeinschaft seiner Zeit ein Solitär, der Neues schuf. In den wenigen biografischen Quellen wird berichtet, dass er in seiner Jugend mit der Familie unterwegs auf «Wägelesfahrt» war, um Bürstenwaren zu verkaufen. Auf einer dieser Reisen lernte er den Maler Paul Kämmerer, der sein Lehrmeister wurde, kennen. Doch weit mehr als sein zeichnerisches Talent faszinierte Wittich das gedruckte Wort. Unter dem steten Druck, den Lebensunterhalt für seine siebenköpfige Familie zu bestreiten, hatte er keine Musse, ganze Romane zu schreiben. Wittich erregte mit seinen Schriften, die Titel wie Blicke in das Leben der Zigeuner, Die jenische Sprache oder Das echte Zigeuner- Traumbuch trugen, Interesse hauptsächlich in einer ethnologisch interessierten Fachwelt. Mit der Darbietung von Kasperltheatern an Volksfesten führte er zusammen mit seiner Familie eine alte Tradition fahrender Spielleute weiter. Ob sein zeichnerisches Talent ihn auch zum Kulissenmaler machte, ist nicht überliefert, darf aber wohl vermutet werden. Die oft über Generationen mündlich tradierten Stücke und Schwänke waren für ihn viel mehr als nur Broterwerb, denn er erkannte darin auch die Kultur seines Volkes, die er der Nachwelt erhalten wollte.
Unter dem Titel Kasper als Diener wurde eines davon beim Schweizerischen Jugendschriftenwerk (SJW) gedruckt. So erlebte dieses von einem Jenischen publizierte Kasperlstück wohl manche Aufführung in bürgerlichen Kinderstuben. Weder die Kinder noch ihre Eltern ahnten im Entferntesten etwas von seiner Herkunft. Doch gerade der Titel ist vielschichtig interpretierbar und spiegelt so auch Wittichs Intention: Er wollte der Diener sein, der die Kultur seines Volkes weitertrug. Er wollte der Diener sein, der zwischen den Glashäusern der Wissenschaft und dem einfachen Volk vermittelte. Doch sicher gefiel ihm auch seine Bühnenrolle als Kasperl, der die Familien mit seinen Possen vergnügt. Denn eines war Wittich vor allem anderen: ein Familienmensch, der für seine Familie alles gab – auch die Chance, als armer, aber begnadeter Schriftsteller Ehre statt Brot einzuheimsen.

 

Das Buch

Engelbert Wittich: Kasper als Diener. SJW-Heft Nr. 12, Zürich 1932. Die Abbildung zeigt den Umschlag der dritten Auflage des SJW-Heftes.

Der Autor

Engelbert Wittich

geboren 1878 in Lützenhardt im Schwarzwald und 1937 in Stuttgart-Bad Cannstatt gestorben. Seine Familie stellte Bürsten und Korbwaren her. Gemeinsam mit seiner Frau bestritt er den Lebensunterhalt für die fünf Kinder mit kleineren Aufführungen und Puppenspielen. Seine Kurzgeschichten und Artikel, hauptsächlich zu den Themen «Zigeuner» und der jenischen Sprache, erschienen vorwiegend in Zeitschriften. Sein Nachlass, der auch einen Briefwechsel mit Karl May enthält, befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Empfehlung von Venanz Nobel
Venanz Nobel ist jenischer Menschenrechtler und Aktivist. Sein Lebensziel, die Anerkennung der Jenischen als eigenständige Minderheit, ging in der Schweiz 2016 in Erfüllung. Er kämpft weiter, um diese Anerkennung auch in den Nachbarländern zu erreichen. Kulturförderung und -vermittlung ist ihm dabei nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern auch ein unabdingbarer Teil des Zusammenlebens der Kulturen.

 


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Jeanette Nussbaumer: Die Kellerkinder von Nivagl – Die Geschichte einer Jugend | Autobiografie

Lesetipp von Martina Rieder, Filmemacherin

Das sympathische kleine Buch habe ich in einem Atemzug gelesen. Jeanette Nussbaumers autobiografisches Buch ermöglichte mir, die harte Kindheit und Jugendzeit der Autorin in Obervaz in der Schweiz hautnah mitzuerleben. Sie schreibt in einfacher und direkter Sprache, was mir einen leichten Zugang in ihre Welt verschaffte. In ihren Erzählungen sah ich immer wieder meine jenischen Bekannten und Freunde vor mir, die ich während der Entstehung meiner beiden Filme Unerhört jenisch (2017) und Jung und jenisch (2010) kennen gelernt habe. Das Buch hat mich erschüttert und traurig gestimmt – und es liess mich schmunzeln und hat mich erwärmt.

Aus dem Kapitel «Die Madensuppe»:

«Einmal kochte sie eine Suppe, da schwammen tatsächlich Maden darin. Ich sagte ihr, dass in der Suppe Maden seien. Sie antwortete ganz streng, das sei Reis, und wenn es uns nicht passe und wir keinen Hunger hätten, könnten wir ruhig hinunter gehen. Uns war der Hunger wirklich vergangen. Wir liessen die Madensuppe stehen und gingen in unsere Kellerwohnung.

Irgendwann in der Nacht kam unser Vater heim. Er war wieder einmal stockbesoffen und tobte herum, bis wir alle wach waren. Am Morgen musste dann René, der Älteste, zur Schule. Ich blieb daheim und hütete und versorgte die Kleinen, so gut es ging.»

Aus Die Kellerkinder von Nivagl, mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

Das Buch

Jeanette Nussbaumer. Die Kellerkinder von Nivagl – Die Geschichte einer Jugend. Basel, Friedrich Reinhardt Verlag 1995

Die Autorin

Jeanette Nussbaumer

Jeanette Nussbaumer-Moser wurde 1947 in eine jenische Familie hinein geboren und verbrachte im Bündner Weiler Nivagl bei Zorten (Obervaz) im Kanton Graubünden eine äusserst harte Jugend. Als viertältestes Kind einer zehnköpfigen Familie musste sie schon früh ihre Heimat verlassen und verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens in der Umgebung von Basel. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt mit ihrem Mann in Altstätten im St. Galler Rheintal.

Empfehlung von Martina Rieder

Ich bin Filmemacherin, Mutter eines Sohnes, lebe und arbeite in Zürich und habe unter anderem die Dokumentarfilme Unerhört jenisch (2017) und Jung und jenisch (2010) realisiert, zusammen mit Karoline Arn.

 


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Ceija Stojka: Auschwitz ist mein Mantel. Bilder und Texte | Monografie

Lesetipp von Kathrin Krahl, Soziologin

Dieses Buch ist von den vielen, die es von und über Ceija Stojka gibt, mein liebstes. Der Titel des Buches, der auch Titel eines ihrer Gedichte ist, berührt mich ganz besonders. Das liegt daran, dass es im Titel nicht die Vergangenheit bemüht. Auschwitz war nicht, sondern ist Mantel.

auschwitz ist mein mantel
du hast angst vor der finsternis?
ich sage dir, wo der weg menschenleer ist,
brauchst du dich nicht zu fürchten.
ich habe keine angst.
meine angst ist in auschwitz geblieben
und in den lagern.
auschwitz ist mein mantel,
bergen-belsen mein kleid
und ravensbrück mein unterhemd.
wovor soll ich mich fürchten?

Der Band Auschwitz ist mein Mantel veröffentlicht aber nicht nur Lyrik von Ceija Stojka. Es findet sich auch eine Auswahl ihrer Bilder. Er ist trotz Katalogcharakter nicht so schwer, dass ich ihn kaum heben kann, der Band ist nicht monumental. Er ist für den Gebrauch produziert.

 

Das Buch

Ceija Stojka: Auschwitz ist mein Mantel. Bilder und Texte. Wien, Edition Exil 2008. Publikation des Gedichtes  mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Die Autorin

Ceija Stojka

Ceija Stojka lebte von 1933 bis 2013. Sie ist eine bedeutende österreichische Schriftstellerin und Künstlerin und gehörte den Lovara-Roma an. Ihre Familie wurde im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet, sie überlebte als Kind drei nationalsozialistische Konzentrationslager. Ihre Kunst legt davon Zeugnis ab.

Empfehlung von Kathrin Krahl

Ich bin Teil von RomaRespekt bei Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen. Zusammen mit Antje Meichsner habe ich das Gedicht «Auschwitz ist mein Mantel» 2016 im Sammelband Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege. Texte über Antirassismus veröffentlicht.

 


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Albert Minder: Die Korber-Chronik: aus dem Wanderbuch eines Heimatlosen

Lesetipp von Charles Linsmayer, Literaturhistoriker und Herausgeber

Als im «Sozialdemokratischen Volksverlag Burgdorf» auf Weihnachten 1925 einer der Begründer dieser proletarischen Verlagsanstalt, der bei der Firma Aebi als Malermeister arbeitende Albert Minder, 46, seine Lebenserinnerungen veröffentlichte, war in der «Berner Tagwacht» zu lesen: «Der Abkömmling unbändiger Zigeuner hat auch als sesshafter Arbeiter den Stolz und den Trotz eigener Art und eigenen Geistes behalten, er ist auch heute noch nicht der ‹Literat›, der ‹Schriftsteller› geworden, der seine Schuhe auf den Matten kleinbürgerlicher Salons abputzen darf. Nein, Minder bleibt bewusst der Prolet, mit so kraftvollen Bekenntnissen und mit so ungeschminkter Offenheit, mit soviel Stolz auf sein Herkommen, seine Art und seinen Stand, dass sein Buch als der heute vielleicht interessanteste Versuch rein proletarischer Dichtung zu würdigen ist.» 

Das Buch, eine originelle Mischung von Erzählungen und Versen, hiess Der Sohn der Heimatlosen. Eine Lebensgeschichte in Gedanken und Gedichten und berichtete ungeschminkt von einer armen, proletarischen Kindheit in einer Schweizer Kleinstadt der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Wie der Titel schon andeutet, verstand sich Minder aber nicht nur als kämpferischer Anwalt der Fabrikarbeiter, sondern zugleich auch als literarischer Exponent des fahrenden Volkes, von dem er abstammte. Darum lotet er weit hinter die eigene Kindheit zurück und schildert eindringlich das Schicksal seiner Vorfahren in jener Periode, als sie auf Initiative von Bundesrat Jakob Stämpfli von den widerstrebenden Gemeinden zwangsweise eingebürgert werden mussten. 1948 publizierte Minder unter dem Titel Korber-Chronik eine Neufassung seines Buches, die der ersten zwar an Fülle und literarischer Qualität weit überlegen ist, aber doch auch manches beschönigt und romantisiert. Insbesondere fehlt nun zur Gänze jener leidenschaftliche proletarische Kampfgeist, wie er in den 115 dilettantischen, aber mit Herzblut geschriebenen Gedichten der Erstausgabe zum Ausdruck kam.

Die literarische korrespondierte allerdings exakt mit Minders biografischer Entwicklung. Als hochbegabter Schüler hatte das Armeleutekind das Burgdorfer Gymnasium besuchen dürfen, musste das Lehrerstudium jedoch aus finanziellen Gründen abbrechen und wanderte in die Welt hinaus, um Maler zu werden. Obwohl sein 1909 entstandenes Riesengemälde Fabrik-Feierabend ihn als höchst bemerkenswertes Talent ausweist, brachte er es nur zum Dekorationsmaler und arbeitete, nach Burgdorf zurückgekehrt, 40 Jahre lang für die Traktorenfabrik Aebi in diesem Beruf. Zugleich engagierte er sich voll in der Arbeiterbewegung, war Mitbegründer des sozialistischen Abstinentenbundes sowie einer Jugendorganisation nach Art der «Roten Falken» und brachte es 1926 gar zum Stadtrat. Zuletzt aber zog er sich resigniert von allem zurück und lebte als vielbelächeltes Original in einer mit Büchern überfüllten Baracke am Stadtrand, beschäftigt mit Geschichte und Tradition der Fahrenden, zu deren Identität er immer deutlicher zurückfand. Als er sich, völlig vereinsamt, am 25. Juli 1965 das Leben nahm, wanderten seine 1344 Bücher – eine Spezialbibliothek zum Thema «Kinder der Landstrasse», wie es sie wohl in dieser Form nie wieder geben wird – unbesehen ins Antiquariat. Die Korber-Chronik, die er noch zwei Jahre vor seinem Tod in zweiter Auflage herausbringen konnte, ist leider seit Jahrzehnten vergriffen und nur noch antiquarisch auffindbar.

Sergius Golowin hat 1979 über Albert Minder geschrieben:

«Ihm, der ganze Geschlechter von Aussenseitern gekannt hat, verdanken wir Einblicke in ein geistiges Bern, das unsern meisten Zeitgenossen fremder und ferner ist als der innere Gehalt der Religionen Eingeborener Australiens. Mären des fahrenden Volkes? Ein stark utopisch gefärbter Frühsozialismus? Mancher mag darüber lächeln und damit nur seinen Unglauben gegenüber der Zukunft beweisen. Ein besseres Morgen ist kaum möglich ohne die Kenntnis und Nutzung aller schöpferischen Kräfte unserer jüngeren Geschichte.»

 

Das Buch

Albert Minder: Die Korber-Chronik: aus dem Wanderbuch eines Heimatlosen. Aarau, Rengger-Verlag 1963. Vergriffen.

Der Autor 

Albert Minder

Albert Minder wurde 1879 als Sohn von Fahrenden in Walkringen geboren und starb 1965 in Burgdorf (beides im Kanton Bern). 1901-1902 besuchte er die Kunstgewerbeschule Basel und war anschliessend während 40 Jahren Dekorationsmaler in einer Burgdorfer Fabrik. 1926 bis 1928 war er Stadtrat in Burgdorf als Abgeordneter der SP.

Empfehlung von Charles Linsmayer
Charles Linsmayer ist Literaturhistoriker, Literaturkritiker und Literaturvermittler. Er spezialisierte sich auf die Kultur- und Literaturgeschichte der Schweiz und gab u.a. 1980 bis 1983 im Ex Libris-Verlag Zürich die 30-bändige, insgesamt 177 Deutschschweizer Autorinnen und Autoren umfassende Edition Frühling der Gegenwart heraus.

 


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Mariella Mehr: Daskind – Brandzauber – Angeklagt | Romantrilogie

Lesetipp von Corina Caduff, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin

Zu Mariella Mehrs 70. Geburtstag hat der Limmat Verlag 2017 drei Romane, die zwischen 1995 und 2002 erschienen sind, als Trilogie wiederaufgelegt: Daskind – Brandzauber – Angeklagt. Sie sind das Herzstück des breiten Werkes von Mariella Mehr. Dieses besteht aus Kolumnen, offenen Briefen, Prosa, Theaterstücken und Gedichten und thematisiert die Zerstörung der jenischen Kultur, die sich in der Schweiz unter dem Projektnamen «Kinder der Landstrasse» (1926-1973) ereignete und die die Autorin selbst an Leib und Seele erfahren hat.

In der Trilogie geht sie von ihren autobiografischen Erfahrungen aus und überschreitet diese mehr und mehr und dringt damit vor zu systematischen Voraussetzungen von gesellschaftlicher Gewalt, die sie erzählerisch vorbehaltlos und eindringlich offenlegt: «Heute interessiere ich mich für die Gewalt in der ganzen Welt.»

In Daskind geht es um ein fremdplatziertes Kind, das mit Sprachverweigerung auf das feindliche Umfeld in einer Dorfgemeinschaft reagiert. Im Mittelpunkt von Brandzauber stehen zwei Erwachsene – eine Jüdin und eine Jenische –, die von ihrer Vergangenheit eingeholt werden, und in Angeklagt geht es um eine jugendliche Gewalttäterin, die im Gegensatz zu den Protagonistinnen der ersten beiden Bände keine aufgeladene Herkunft hat.

Folgender Textausschnitt aus Brandzauber gibt einen Eindruck von Mariella Mehrs literarischer Sprache:

«Man nannte es Handschrift. Man lernte eine Handschrift kennen, wenn die Hand zuschlug. Die Handschriften unterschieden sich. Ihre Botschaften zu verstehen, nahm Tage und Nächte in Anspruch. Oft begriff man sie nicht.

Auch ich wollte eine Handschrift hinterlassen, ich wollte den Wohnwagen anzünden, in dem meine Mutter zwischen leeren Schnapsflaschen, schmutzigem Geschirr, randvollen Aschenbechern und Abfällen lebte.

[…]

In den Anstalten nannte man mich Zigeunerschlampe. Manchmal hiess ich Dubistwiedeinemutter.

Als ich mich dem Platz näherte, war es bereits hell. Der Hund gab Laut. Ich beruhigte ihn mit einem Zischen. Ich zerrte ihn hinter ein Gebüsch und gab ihm ein Stück Speck, das ich mir am Vortag in einer Metzgerei genommen hatte.

Es war die Zeit der Pferdemärkte. Vater war unterwegs.

Den Hund am Halsband haltend, schlich ich mich zum Wohnwagen. Auf der Wiese blühte Fettkraut. Ein Specht hämmerte Larven aus einem Baumstamm. Im Wald kreischte eine Motorsäge. Der Wohnwagen war in das erste goldene Licht getaucht.

Die Schwefelhölzer waren feucht geworden. Als endlich eines brannte, schützte ich es mit der hohlen Hand und hielt die Flamme an das Fettpapier. Es roch nach verbranntem Speck.

Der Hund winselte leise. Nach einem scharfen Zischen legte er sich neben einen Haufen alter Pfannen und verstummte.

Ich schob das brennende Papier unter den Wagen. Ich legte ein paar dürre Zweige darauf. Ich hörte das Knistern und das trunkene Schnarchen der Mutter. Das Feuer hatte Nahrung gefunden. Ich zog mich in den Wald zurück. Der Hund lief mir nach.

Als die Flammen hochzüngelten und die Hitze die Fensterscheiben zum Bersten brachte, erwachte die Mutter. Der Schrei scheuchte den Hund aus unserem Versteck. Bellend rannte er auf den Wohnwagen zu und sprang kläffend an der Tür hoch. Seine Klauen kratzten über das Holz.

Ich hörte das Poltern im Wohnwagen. Fluchend stolperte die Frau über ihren Hausrat. Ich hörte das Splittern von Glas. Ich hörte, wie ein Stuhl umgestossen wurde und die Tür mit einem lauten Knall aufflog. Mit Kissen und Decken fuchtelnd versuchte meine Mutter, das Feuer zu löschen. Der hintere Teil des Wohnwagens brannte lichterloh.

[…]

Anna wurde von der Polizei aufgegriffen.

Die Mutter lag im Spital. Wenn sie schrie, zeterten die Bettnachbarinnen. Ihr linkes Auge war bei dem Brand zerstört worden.

Die Waldarbeiter erschossen den Hund.

Als Annas Vater wenige Tage später von seinem Pferdehandel zurückkehrte, fand er einen verkohlten Platz vor und die rauchenden Trümmer des Wohnwagens. Den Prozessbeginn erlebte er nicht mehr.

Anna bekam einen neuen Namen: Tochtereinesbrandstifters.

Die neue Anstalt hiess Zum Guten Hirten, Haus für gefallene Mädchen. Auf der Mauerkrone waren bunte Glasscherben einzementiert.»

 

Das Buch

Daskind – Brandzauber – Angeklagt. Romantrilogie. Zürich, Limmat Verlag 2017. Die Erstausgaben erschienen 1995, 1998 bzw. 2002 bei Nagel&Kimche in Zürich.

Weitere Text- und Hörbeispiele finden sich auf der Website RomArchive: https://www.romarchive.eu/de/collection/p/mariella-mehr/

Die Autorin

Mariella Mehr 

Mariella Mehr wurde 1947 in Zürich als Angehörige der Jenischen geboren. Nachdem sie sich aus der Bevormundung der Aktion «Kinder der Landstrasse», die ihre Kindheit und Jugend prägte, befreit hatte, etablierte sie sich seit 1975 als Journalistin und Schriftstellerin. 1998 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr publizistisches Engagement für unterdrückte Minderheiten verliehen.

Empfehlung von Corina Caduff

Corina Caduff ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Seit 2017 ist sie Vizerektorin Forschung an der Berner Fachhochschule.

 


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Auf der Milchstrasse fahren wir davon. Lyrik von Roma, Sinti und Jenischen. Literaturzeitschrift Orte Nr. 201

Lesetipp von Anne-Marie Kenessey, Lyrikerin und Lyrikübersetzerin

2019 widmete die Schweizer Literaturzeitschrift orte, die fünfmal jährlich erscheint, eine ihrer Ausgaben der Lyrik von Roma, Sinti und Jenischen. Ein kühnes Unterfangen, denn die Unterschiede in Kultur und Sprache zwischen diesen drei in sich bereits heterogenen Gruppen sind gross. Einen Rahmen verleiht dem Heft der Titel Auf der Milchstrasse fahren wir davon, unter dem Gedichte zum Unterwegssein versammelt sind. Erfreulicherweise erweisen sich die ausgewählten Texte in Form und Bezügen als sehr vielfältig. Sie stammen von einem Dutzend Literaten, angefangen mit Kujtim Paçaku aus dem Kosovo bis zu Cecilia Woloch aus den USA. Mit Beiträgen von gleich vier Schweizerinnen und Schweizern wurde, dem Profil der Zeitschrift entsprechend, ein Schwergewicht gesetzt. Mariella Mehr hat durch ihre Romane und Gedichte, aber auch durch ihr Engagement für die Jenischen in der Schweiz Bekanntheit erlangt. Sie war selbst eine Betroffene der Aktion «Kinder der Landstrasse» wie auch Graziella Wenger, die ihre Arbeiten in den 1990ern in mehreren Ringbüchern veröffentlichte, darunter ihre Jugenderinnerungen Zerschlagene Räder. Der gebürtige Fribourger Venanz Nobel lebte 25 Jahre als «Fahrender». In seinen Texten schöpft er aus dem Wortschatz der jenischen Kultur. Stephan Eicher ist als Chansonnier seit den 1980er-Jahren fast jedem in der Schweiz ein Begriff.
Weit von Touristenfolklore entfernt ist die bildgewaltige, metaphernreiche, barock anmutende Lyrik des Ungarn Károly Bari, dessen Langgedicht Nachtreise ich fürs Heft übersetzen durfte. Károly Bari wurde 1952 im Dorf Bükkaranyos in Nordostungarn in eine Roma-Familie geboren und lebt als Lyriker, Übersetzer, Grafiker und Volkskunstforscher in Budapest. Wegen Gedichten politischen Inhalts wurde er 1974 ins Gefängnis gesperrt und nach seiner Entlassung für lange Zeit an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Er veröffentlichte in Ungarn mehrere Gedichtbände, den ersten bereits als Gymnasiast. Literatur von Roma, Sinti und Jenischen, gedruckt und verlegt, ist eine relativ neue Erscheinung. Károly Bari gehört zu den ersten, die es in Ungarn zu höchsten Auszeichnungen und einem breiteren Lesepublikum gebracht haben.
Die Einleitung der orte-Redaktorin Viviane Egli und der wissenschaftliche Beitrag der Kölner Historikerin Karola Fings bieten wertvolle Orientierungshilfen. Der Schweizer Fotograf Urs Walder hat für die Illustration der Ausgabe einige Kostbarkeiten seines Bildbandes Nomaden in der Schweiz zur Verfügung gestellt.

 

Das Heft

Orte. Schweizer Literaturzeitschrift Nr. 201, Mai 2019. Auf der Milchstrasse fahren wir davon. Lyrik von Roma, Sinti und Jenischen. Zu beziehen bei: verlag@orteverlag.ch  

Empfehlung von Anne-Marie Kenessey

Anne-Marie Kenessey lebt als Lyrikerin und Lyrikübersetzerin aus dem Ungarischen in Zürich. Neben Texten von Károly Bari hat sie Gedichte des ungarischen Roma-Lyrikers Tamás Jónás für die von ihr zusammengestellte Ausgabe zu neuer ungarischer Lyrik der Schweizer Literaturzeitschrift Orte Nr. 195 übersetzt sowie für eine Buchpublikation, die 2021 im Berliner KLAK-Verlag erscheinen wird.

 


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Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen. Aufzeichnungen einer Romni zwischen den Welten

Lesetipp von Michèle Minelli, Schriftstellerin

Güte. Ein beinahe antiquiert anmutendes Wort, Güte, so selten wird es heute gebraucht. Obwohl: Brauchen täten wir sie schon, die Güte. Die Künstlerin Ceija Stojka lässt uns in ihren Erinnerungen nicht nur an ihrem Leben teilhaben, sondern an ihrer ganz besonderen Art, jeder Schwierigkeit, jeder Unmenschlichkeit, jeder Unerträglichkeit genau damit zu begegnen: Güte.

Es ist ein Buch voller Lebendigkeit, eines, das den Mut und die Kraft hat, Kriegshandlungen beim Namen zu nennen, ohne sich selber darin zu verlieren. Eines, das man immer wieder hervornehmen kann, wenn man die unsentimentale Sprache der Romni Ceija Stojka wiederlesen und daran teilhaben will, wie sich diese Frau ihre Güte dem Leben gegenüber bewahrt hat.

Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Ceija Stojka und Karin Berger «Solange es Roma gibt, werden sie singen»:

«Dass es immer noch alte und neue Nazis gibt, war vorauszusehen. Ich lebe mit der Gefahr, aber ich nehme sie in Kauf. Ich bin glücklich, dass ich das machen kann und dass ich die Kraft dazu habe. Angst habe ich vor allem um unsere Nachkommen. Ich habe heute schon meine sechzig Jahre, was kann mir noch passieren? Ich habe sämtliches Leid, das es gibt, am eigenen Körper erlebt, sei es mit meinen Kindern, sei es mit meinen Enkelkindern, mit meinen Eltern, mit meiner Familie. In meinem ganzen Leben ist es ohnehin immer nur um die Familie gegangen, um die paar Kinder, die ich habe, um meine Enkelkinder, um das Leben meiner Person, um die, die mit mir leben und die, die ich kenne, ob es Gadje sind oder Roma oder Sinti. Gibt einer mir die Hand, dann lege ich die zweite darauf, aus Dankbarkeit. So will ich es und so soll es auch sein. Denn wenn ein Gadjo, ein Nicht-Zigeuner, mir entgegenkommt, bin ich die Letzte, die einen Schritt zurückgeht. Im Gegenteil.»

Aus: Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen. Aufzeichnungen einer Romni zwischen den Welten. Wien, Picus Verlag 2013. Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

Die Autorin

Ceija Stojka

1933 in Kraubath an der Mur (Österreich) geborene Angehörige der Lovara-Roma. Als Kind überlebte sie drei nationalsozialistische Konzentrationslager und kam als Erwachsene zum Schreiben. Bis zu ihrem Lebensende 2013 schrieb, sang und malte sie.

Empfehlung von Michèle Minelli

Michèle Minelli ist Schriftstellerin und Koordinatorin des Stipendienprogramms Literatur und Menschenrechte (Meran). Sie lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Der Foto-Textband Kleine Freiheit (Verlag Hier und Jetzt, 2015), den sie zusammen mit der Fotografin Anne Bürgisser verwirklicht hat, ist den Jenischen, den Roma und den Sinti gewidmet.

 


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Katarina Taikon: Katitzi | Kinderbuchreihe

Lesetipp von Ute Wolters, Studienrätin a.D. und Rezensentin für Kinder- und Jugendliteratur

Die schwedische Roma-Autorin Katarina Taikon (1932-1995) erzählt in einer einfachen Sprache, oft in Dialogform, von ihrer Kindheit ca. 1940-47, vom Leben der Roma, das harte Arbeit für alle, Kälte und ständiges Umherziehen auf Druck der Obrigkeit bedeutete.

Katitzi kommt erst mit sieben Jahren aus einem Kinderheim ins Lager des Vaters und muss lernen, was es bedeutet, «Zigeunerin» zu sein. Die Mehrheitsgesellschaft konfrontiert das Kind und seine Familie immer wieder mit Erniedrigung und Ausgrenzung, enthält ihnen das Recht auf Wohnung, Ausbildung und Arbeit vor. Zugleich erzählt Katitzi von den Spielen mit den drei Geschwistern, ihrem Hund und Freunden, ihren Aufgaben im Lager und Tivoli des Vaters, der nach dem frühen Tod der Mutter wieder eine Schwedin heiratet, die Katitzi misshandelt. Regeln, Tabus, Zusammenhalt und Schwierigkeiten im Lager der Roma, Verheiratung durch die Eltern im Alter von 15 Jahren und Scheidung durch das Gericht der Roma. Der Wechsel in ein neues Leben in Stockholm sind mehr reflexive Inhalte der letzten drei Bände.

Katarina Taikon gab die 13 Bände ab 1969 jeweils in Kleinverlagen heraus. In Schweden gehören sie zum Standardbestand jeder Bibliothek. Es gibt Verfilmungen, Theaterstücke und viele Fotos ihres Mannes. Seit 2016 erscheint eine Neuausgabe beim schwedischen Verlag Natur & Kultur. In Deutschland wurden 1974/76 zwei Bände im Hermann Schaffstein-Verlag veröffentlicht, allerdings gekürzt und mit einem tanzenden Zigeunermädchen auf dem Cover, das an die traditionellen Stereotype appelliert. Ab 1996 erschienen die Bände im Mainz-Verlag ohne Copyright der Autorin, die nach 13-jährigem Koma kurze Zeit vorher verstorben war. Die Bände sind nur in wenigen Bibliotheken zu finden, darunter in der Staatsbibliothek Berlin und in der Vereinigung Rom e.V. Köln. Bisher fand sich kein deutschsprachiger Verlag für eine Neuausgabe.

 

Das Buch

Katarina Taikon: Katitzi. Schwedische Erstausgabe in verschiedenen Verlagen zwischen 1969 und 1981.

Deutsche Übersetzungen: im Hermann-Schaffstein-Verlag, Köln 1974/1976 (in zwei Bänden, gekürzt). Im Druck- und Verlagshaus Mainz, Aachen ab 1996 (Bände 1-10). Seit 2016 erscheint eine schwedische Neuausgabe bei Natur & Kultur: https://www.nok.se/sok/all?q=katitzi&page=1

Mehr zu Autorin und Buch auf der schwedischen Webseite: https://www.taikon.se/katitzi-bockerna

Die Autorin

Katarina Taikon

Katarina Taikon (1932-1995) war eine schwedische Kaldaraš-Romni, politische Aktivistin, Schriftstellerin und Schauspielerin. Wie die meisten Roma ihrer Generation hatte sie nur kurz eine Schule besucht und erst mit 26 Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Mit 15 Jahren spielte sie die Hauptrolle im Kurzfilm Uppbrott von Arne Sucksdorff. Während dieser Zeit erreichte sie die Scheidung durch das oberste Gericht der schwedischen Rom (kris) von ihrem ersten, 19-jährigen Mann. Katarina Taikon wird oft als «Martin Luther King von Schweden» bezeichnet. Mehr Informationen zur Autorin unter https://www.romarchive.eu/de/collection/p/katarina-taikon/

Empfehlung von Ute Wolters

Ute Wolters ist Studienrätin a.D. und Skandinavien-Fan. Von 1980 bis 1986 lebte sie als Lektorin in Norwegen, später hatte sie ein Sommerhaus in Schweden. Seit 1980 ist sie Rezensentin bei der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (AJuM der GEW) mit Schwerpunkt Berlin, Roma und skandinavische Kinder- und Jugendliteratur.

 


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Tamás Jónás: Geröll | Gedichte

Lesetipp von Anne-Marie Kenessey, Lyrikerin und Lyrikübersetzerin

Tamás Jónás ist eine der wichtigsten und spannendsten Stimmen der zeitgenössischen ungarischen Lyrik. 1973 wurde er in eine ungarische Roma-Familie geboren. Bereits im Alter von 16 Jahren veröffentlichte er die ersten Gedichte, mit 21 Jahren den ersten Gedichtband. Bis heute liegen insgesamt acht Bände in ungarischer Sprache vor, aus denen ich 62 Gedichte ausgewählt und für eine eigenständige Buchpublikation ins Deutsche übersetzt habe, die Anfang 2021 unter dem Titel Geröll. Gedichte im Berliner KLAK-Verlag erscheinen wird. Von Beginn weg trat Tamás Jónás mit ganz eigenständigen Texten auf und ist sich bis heute treu geblieben. Womit er angetreten ist, daran knüpft er an, das spinnt er weiter, sowohl formal als auch thematisch. Was aber macht seine Lyrik so unverwechselbar? Obschon er ein Meister der Form ist, geht es ihm nie darum, mit ausgeklügelter Ästhetik zu beeindrucken. Er folgt auch keinen Strömungen und Tendenzen. Seine Sprache ist konkret und direkt, die Gedichte sind eindringlich und nüchtern zugleich, bei ihm wird Alltägliches, werden menschliche Grunderfahrungen wie Kindheit, Liebe, Mangel, Einsamkeit, Tod, die Frage nach Gott, das Scheitern und Hadern mit dem Schicksal, mit schonungsloser Ehrlichkeit zu Literatur verwoben. 

Seinen Weg musste er sich von klein auf gegen viele Widrigkeiten und Schicksalsschläge erkämpfen. Die ersten Lebensjahre verbrachte er im nordungarischen Dörfchen Csernely. Als er vier Jahre alt war, wurde eine Familie jäh zerrissen. Seine Eltern mussten wegen Schulden ins Gefängnis. Er und seine Geschwister wurden in verschiedenen Kinderheimen untergebracht. Zwei Jahre später fand die langersehnte Wiedervereinigung der Familie statt. Mit einem Umzug ins westungarische Szombathely versuchte sie, ein neues Leben zu beginnen. Doch nichts war mehr  wie früher.

Seine traumatische Kindheit verarbeitete der Autor mit 22 Jahren in einem autobiographischen Kurzroman. Der Text erschien, zusammen mit weiteren Prosastücken, 2006 in deutscher Übersetzung im Erzählband Als ich noch Zigeuner war (Kortina Verlag, Budapest).

Tamás Jónás selbst nennt seine Texte persönlich, subjektiv. Aus dieser persönlichen, subjektiven Perspektive heraus gelingt es ihm wie keinem anderen Ungarn seiner Generation, ein Licht auf soziale Verhältnisse, das Schicksal der Roma und der Menschen am Rande zu werfen.

 

Das Buch

Tamás Jónás: Geröll. Gedichte. Aus dem Ungarischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Anne-Marie Kenessey. KLAK-Verlag, Berlin 2021

Ab Februar 2021 über die Website des Verlags www.klak-verlag.de und in jeder Buchhandlung bestellbar. Das Bild stammt von Tamás Jónás.

Der Autor

Tamás Jónás

Tamás Jónás wurde 1973 im nordungarischen Ózd in eine Roma-Familie geboren und lebt heute in Szombathely. Er arbeitet als Programmierer und Journalist. Bisher veröffentlichte er acht Gedichtbände in ungarischer Sprache. Für sein schriftstellerisches Werk, das auch viele Erzählungen umfasst, erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien, u.a. den ungarischen AEGON Kunstpreis 2009 für den Gedichtband Önkéntes vak (Der freiwillig Blinde) und auf Empfehlung von Péter Esterházy das Herder-Stipendium 2002, das ihm einen einjährigen Aufenthalt in Wien ermöglichte.

Empfehlung von Anne-Marie Kenessey

Anne-Marie Kenessey lebt als Lyrikerin und Lyrikübersetzerin aus dem Ungarischen in Zürich. Neben der in diesem Beitrag vorgestellten Buchpublikation hat sie Gedichte von Tamás Jónás für eine von ihr zusammengestellte und redigierte Sonderausgabe der Schweizer Literaturzeitschrift Orte zu neuer ungarischer Lyrik übersetzt: Orte. Schweizer Literaturzeitschrift Nr. 195. Irgendeine schwere Frucht. Neue ungarische Lyrik. Orte Verlag, Schwellbrunn 2018.

 


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Kujtim Paçaku: Zuerst nageln sie mir den Mund fest zu | Gedicht

Lesetipp von Angela Mattli, Kampagnenleiterin bei der Gesellschaft für bedrohte Völker

«Zuerst nageln sie mir den Mund fest zu
Zu ihrem Vergnügen
Und dann befehlen sie mir zu singen!»

Dieses Gedicht gefällt mir sehr, es bringt vieles auf den Punkt. Es ist ein Gedicht, welches die Realität der Roma in Kosovo einfängt. Wiedergibt. Komprimiert. Kujtim Paçaku (1959-2018) war ein sehr gewichtiger Dichter, Politiker und Roma-Aktivist aus dem Kosovo. Er schrieb Gedichte und Prosa in Romanes und hat sich um die Weiterentwicklung dieser Sprache grosse Verdienste gemacht. Er verarbeitete u.a. den Kampf nach Selbstbestimmung der Roma in Kosovo und traumatische Erlebnisse dieser Gemeinschaft während des Kosovokriegs (1999) lyrisch. Er war als Roma-Vertreter Mitglied des kosovarischen Parlamentes. Ich durfte Herrn Paçaku im Rahmen meiner Menschenrechtsarbeit in Pristina kennenlernen und war tief beeindruckt von seiner Klarheit, seiner Analyse, Zuversicht und Liebe zu seiner Community.

Aus: Bern ist überall: Kosovë is everywhere (Audio-CD). Bern, Der gesunde Menschenversand 2018

 

Der Autor

Kujtim Paçaku

1959 in Prizren geboren, studierte Musik, Schauspiel und Regie sowie Romani Studies an der Sorbonne in Paris. Er arbeitete als Journalist für diverse europäische Medien und war als Roma-Aktivist, Politiker und Dichter tätig. 

Empfehlung von Angela Mattli

Angela Mattli ist Historikerin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Kampagnenleiterin bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zum Thema Minderheiten und Diskriminierung. Seit fast einem Jahrzehnt beschäftigt sie sich mit Antiziganismus und der strukturellen Diskriminierung von Sinti und Roma in der Schweiz und im Westbalkan.

 


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Ronald Lee: Verdammter Zigeuner | Roman

Lesetipp von Maryse Sablonier, angehende Buchhändlerin

«Wo du Zigeuner siehst, herrscht Freiheit. Wo du keine siehst, ist die Freiheit abgeschafft.»

Ronald Lees Buch Verdammter Zigeuner ist ein eindringlicher Schrei aus dem Leben des jungen Rom Yanko in Kanada um 1960. Ein Schrei, der sich zu vielen auftürmt und mit ganzem Getöse hinter die Stirn einbrennt. Unermüdlich kämpft Ronald Lee mit seinen Texten für die Würde und Anerkennung der Rom*nja und immer zugleich für die aller Ausgestossenen. Er dekonstruiert die in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden Vorurteile und schildert mit einer Wucht, wie dadurch Unzählige in die Abgeschiedenheit und Armut gedrängt werden. Ronald Lee schreibt von diskriminierenden Gesetzen und der damit einhergehenden Kriminalisierung. Er schreibt von der Kreation stereotyper Bilder in den Medien und wie sich diese in den Köpfen der Gesellschaft festsetzen. Er spricht über die Unterdrückung und schreibt mit jedem Wort gegen sie an.

«Ich fluchte leise in Romany: ‹Te meren ando tumaro kul – mögt ihr in eurem eigenen Dreck ersticken!›
Ich wollte zurückschlagen, eine Armee aus all jenen bilden, die Kanadier sein wollten, an einem grossen Land mitbauen wollten, aber als ‹Neger›, ‹Indianer›, ‹Zigeuner›, ‹Radikale›, ‹Spinner› und ‹Kommunisten› ausgeschaltet waren in einem Kanada, wo die einzig wahren Kanadier weisse Christen englischer Abstammung sein und an Osterhasen, Klapperstorch und Eishockey glauben mussten und wo ein weisser Mann zwanzig andere wert war.»

Yanko, der bei einer Nicht-Roma Pflegefamilie aufgewachsen ist, trifft in Ontario, einer Provinz im Südosten Kanadas auf Kolia. Zusammen ziehen sie umher, stets auf der Suche nach Arbeit als Kesselflicker. Es wird jedoch immer beschwerlicher, Aufträge zu erhalten, da sie mehr und mehr von Grossunternehmen verdrängt werden. Unterwegs verliebt sich Yanko in Marie, eine Indigene. Gleichzeitig findet Kolia seine grosse Liebe wieder und zieht mit ihr in die Vereinigten Staaten. In Montreal versucht Yanko währenddessen verzweifelt seine wachsende Familie zu ernähren. Bis er eines Tages eine gut bezahlte Arbeit in einem Museum findet. Als er es nicht mehr aushält als blosses «Spielzeug dieser reichen herablassenden Heinis» dazustehen, reicht er die Kündigung ein und segelt schliesslich mit seiner Familie nach Europa.

Das Feuer eines unerbittlichen Kampfes lodert in Ronald Lees Sätzen, die messerscharf sind. Und doch ist da auch eine Zärtlichkeit, wenn er beispielsweise die Figuren in ihrer eigenen Sprache, Romanes, sprechen und singen lässt. Oder er die innige Freundschaft zwischen Yanko und Kolia umzeichnet. Die Wut gegen die Unterdrückung, die bleibt, nicht nur zwischen den Zeilen, sondern auch dann, wenn das Buch längst zugeklappt neben dem Bett liegt. 

«Vor mir sind zwei Strassen, welche soll ich wählen,
die Zigeunerstrasse oder die andere?
Ich nahm die andere, aber weit bin ich nicht gekommen.
Ich geriet in tiefes Elend, tiefes Elend.
Ich ass einen Hühnerschlegel, und sie warfen mich ins Gefängnis,
dann ass ich ein Hähnchenbein, und sie warfen mich in den Kerker.»
(altes Lied der Kalderash)
 

Das Buch

Ronald Lee. Verdammter Zigeuner. Weinheim, Beltz & Gelberg 1997

Der Autor

Ronald Lee

Ronald Lee, 1934 in Montreal, Kanada, geboren und in Grossbritannien bei einer Nicht-Roma Pflegefamilie aufgewachsen, kehrte mit 21 Jahren zurück und zog jahrelang mit den Kalderash umher. 1971 veröffentlichte er seinen Roman Goddam Gypsy, der 1979 auf der Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises landete. 2009 wurde das Buch unter dem Titel The Living Fire/E Zhivindi Yag bei Magoria Books neu aufgelegt.

Empfehlung von Maryse Sablonier

Maryse Sablonier, geboren 1997 und aufgewachsen in Zürich, macht redaktionelle Arbeiten für die RosaRot und derzeit eine Lehre als Buchhändlerin. Sie liest und kämpft für eine andere Welt, mit Worten und Händen und Füssen.

 


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Matéo Maximoff: Die Ursitory | Roman

Lesetipp von Nina Debrunner, Literatur- und Musikwissenschaftlerin

Maximoffs Roman Die Ursitory ist Märchen, Heldenepos und Entwicklungsroman in einem. Er erzählt die Geschichte von Arniko, dessen Leben nach den sorgsam gehüteten Weissagungen der Ursitory, der Schicksalsengel, an ein angekohltes Holzscheit geknüpft ist. Wenn das Scheit verbrennt, muss er sterben. Lesend verfolgt man die Abenteuer des schönen, heissblütigen, stolzen und mit geheimnisvoller Kraft begabten Jünglings aus dem Volk der Roma. Zweimal verstrickt er sich in unglückliche Liebesgeschichten, zunächst mit Helena, einer rumänischen Baronstochter, und dann mit Parni, einer Romni aus einem verfeindeten Stamm. Endlich geht er eine Vernunftheirat mit der schönen Orka ein. Doch schliesslich kommt es, wie es kommen muss. Als er im Begriff steht, seinem Volk den Rücken zu kehren, holt ihn die unvermeidliche Katastrophe ein.

Die Ursitory ist eine kühne Mischung aus einem holzschnittartigen, archaisch anmutenden Sittengemälde der Roma-Kultur mit rigider Moral einerseits und einer psychologisch motivierten Coming-of-Age-Geschichte andererseits. Als Leserin wird man auf irritierende und unheimliche Weise in ihren Bann gezogen.

Geschrieben hat den Roman der kaum zwanzigjährige Rom Matéo Maximoff 1938 in einem Gefängnis in der Auvergne in Frankreich. Nach einem blutigen Streit zwischen zwei Roma-Familien war er zusammen mit den anderen Überlebenden angeklagt worden. Sein Verteidiger bat ihn, der als Einziger lesen und schreiben konnte, ihm zum besseren Verständnis der Roma-Kultur Aufzeichnungen zu liefern. Was er erhielt, war der Roman Die Ursitory. Vor diesem Hintergrund wird aus der märchenhaften Geschichte eine intensive Suche eines jungen Rom nach seiner Identität, seiner Geschichte und seinen Möglichkeiten. Eine wundersame Entdeckung eines faszinierenden Roma-Romans.

 

Das Buch

Matéo Maximoff: Die Ursitory. Aus dem Französischen von Walter Fabian. Zürich, Unionsverlag 2001 (französische Erstausgabe 1946 unter dem Titel Les Ursitory)

Der Autor

Matéo Maximoff 

Matéo Maximoff wurde 1917 in Barcelona geboren und kam als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Frankreich. Während des Zweiten Weltkrieges war er einige Jahre lang im Konzentrationslager in Gurs interniert. Nach dem Krieg liess er sich in Romainville bei Paris nieder, wo er bis zu seinem Tod 1999 als Kupferschmied, Schriftsteller und Fotograf tätig war. 1985 wurde er von der französischen Regierung zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. Er gilt als der erste Schriftsteller der Roma.

Empfehlung von Nina Debrunner

Nina Debrunner ist Literatur- und Musikwissenschaftlerin und als solche in diversen Feldern und Projekten tätig. Unter anderem hat sie das Archiv der jenischen Autorin Mariella Mehr inventarisiert und 2017 gemeinsam mit Christa Baumberger den Leseband Widerworte - Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen mit Texten von und zu Mariella Mehr herausgegeben. Sie hat die Lesereihe «Weltenweit» redaktionell betreut. 

 


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Mariella Mehr, Simone Schönett, Károly Bari | La Revue de belles-lettres

Lesetipp von Christa Baumberger, Leiterin Litar

Mit 33 Beiträgen schliessen wir die Lesereihe «Weltenweit» ab. Die Sammlung von persönlichen Empfehlungen ermöglicht eine Reise durch nahezu unbekannte Literaturwelten der Jenischen, Sinti und Roma. Sie stellt ausgewählte Bücher und Autor*innen vor, vermittelt erste Einblicke, will neugierig machen und zum Weiterlesen anregen. Wenn Sie bis hierher gelangt sind und vielleicht sogar das eine oder andere Buch beschafft und gelesen haben, so ist ein grosses Ziel erreicht. Allerdings sind viele der Bücher der Lesereihe in Kleinverlagen erschienen und zum Teil längst vergriffen. «Weltenweit» will deshalb Neuauflagen und Übersetzungen anregen. Bei Mariella Mehr, Simone Schönett und Károly Bari ist uns das gelungen. 

Die Westschweizer Zeitschrift La Revue de belles-lettres widmet diesen Autorinnen und Autoren in der Ausgabe 1-2, 2020 einen Schwerpunkt. Im Zentrum steht das dichterische Schaffen von Mariella Mehr, von dem ein faszinierendes Netzwerk von Gedichten und Briefen zu vielen weiteren Dichterinnen und Dichtern führt. Zu ihnen gehören Simone Schönett, Károly Bari, aber auch Christine Lavant und Kurt Marti. Weit über die Grenzen einer ‹jenischen Literatur› hinausweisend, sind es Geistesverwandte, mit deren Schaffen sich Mariella Mehr auf vielfältige Weise auseinandergesetzt hatte. Mit Kurt Marti verband sie eine persönliche Freundschaft, über Christine Lavant hat sie sich in pointierten Buchbesprechungen und Essays immer wieder geäussert. Besonders verdienstvoll ist, dass neben den französischen Übersetzungen von Nathalie Garbely, Cécile A. Holdban, Philippe Jaccottet, Jean-René Lassalle und Camille Luscher auch die Originaltexte auf Deutsch, Ungarisch (Károly Bari) und Jenisch (Simone Schönett) abgedruckt sind.  

 

Die Zeitschrift

La Revue de belles-lettres, Nr. 1-2, 2020, Herausgegeben von Marion Graf. Société de Belles-Lettres, Lausanne. Vertrieb: Editions Zoé, CH-1225 Chêne-Bourg. www.larevuedebelleslettres.ch, info@larevuedebelleslettres.ch

Die Autoren

Mariella Mehr, Simone Schönett, Károly Bari

Mariella Mehr wurde 1947 in Zürich als Angehörige der Jenischen geboren. Ihr Werk umfasst neben der sogenannten «Romantrilogie der Gewalt» auch mehrere Gedichtbände. 
Simone Schönett wurde 1972 in eine jenische Familie geboren und lebt als freie Schriftstellerin nahe Villach in Österreich. Sie schreibt Prosa, Lyrik sowie dramatische Texte und erhielt zahlreiche Preise und Anerkennungen. 
Károly Bari, 1952 als ungarischer Rom geboren, ist Lyriker und Maler. Auf Deutsch ist von ihm der Gedichtband Vom Gellen der Geigen erschienen (Berlin, Oberbaum Verlag 1997).

Empfehlung von Christa Baumberger

Christa Baumberger ist seit 2018 Programm- und Geschäftsleiterin der Stiftung Litar. Sie leitet das Programm «Weltenweit – Literatur der Jenischen, Sinti und Roma». Von 2009 bis 2018 war sie Kuratorin von Mariella Mehrs Archiv am Schweizerischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek in Bern. Sie hat mit Nina Debrunner den Band Widerworte – Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen» (Limmat Verlag 2017) mit Texten von und zu Mariella Mehr herausgegeben