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Ein Blick hinter die Kulissen einer Literaturausstellung und darüber hinaus: In unregelmässigen Abständen vertiefen Autor:innen, Studierende und weitere Beteiligte in diesem Blog ausgewählte Inhalte der Galerie Litar. Ein vielstimmiger Raum, wo die verschiedenen Fäden einer Ausstellung zusammenlaufen.

 

Merz Welt

Video Still Marion Graf

Video-Beitrag von Marion Graf für die Ausstellung «Merz Welt» in der Galerie Litar Zürich. Video Still: Noah Frey. 

 

Die Knappheit der Sprache

Kaum jemand kennt das Werk von Klaus Merz so von innen: Marion Graf ist die langjährige Übersetzerin ins Französische. Sie hat gelernt, die «heimliche Hilfsbereitschaft der Wörter wie ein unverhofftes Geschenk anzunehmen».

 

Was fasziniert Sie an «Jakob schläft»?

Die Welthaltigkeit des Textes: Im kleinsten Format vermag er die ganze Welt einzufangen. Sie findet sich in den Höhenflügen der Fantasie oder in der Tiefe, wenn die Kinder im Sandkasten graben … Die Welthaltigkeit erstreckt sich bis hin zum Kosmos, der bereits im Namen des Bruders «Sonne» mitklingt, oder bis zur Malerei, mit der sich Klaus Merz intensiv beschäftigt. Auch im Fantastischen liegt sie, mit den Motiven Tod und Krankheit ist sie ebenfalls eng verbunden, die Figuren gelangen dadurch an die Extreme des Lebens.

Der Zusammenhalt der Familie in diesem Buch wird unglaublich stark – und nicht etwa pathetisch oder selbstbemitleidend – dargestellt. Einerseits thematisiert es die Nähe, Liebe und Unterstützung innerhalb der Familie und anderseits die boshafte Ausgrenzung innerhalb des Dorfes. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem an der Figur von Marietta ersichtlich, dem Dienstmädchen aus Italien, die während dem Krieg ein Auge verloren hat: Eine Seite ihres Gesichts ist im klassischen Sinne schön, während die andere Hälfte durch ihre Verletzung versehrt ist. Klaus Merz hat einmal gesagt, er schreibe quasi der Nase von Marietta entlang. Die Schönheit und das Leiden gehören für ihn zusammen …

Seit wann übersetzen Sie Klaus Merz? Welches sind die besonderen Herausforderungen?

«Jakob schläft» ist das erste Buch, das ich übersetzt habe. Die Herausforderung liegt vor allem in der Knappheit der Sprache von Klaus Merz. Er bedient diesen besonderen Schatz an Wörtern, die er stets aneinander reibt, oftmals mehrdeutig verwendet und sehr sorgfältig im Text verwebt. Diese Knappheit in den Sätzen oder in seiner Lyrik ist besonders anspruchsvoll zu übersetzen.

Wie wurde «Jakob schläft» in Frankreich und der Romandie aufgenommen?

Klaus Merz wurde von den französischsprachigen Verlagen, wie etwa von Éditions Zoé mit «Jakob schläft», sehr positiv aufgenommen – auch von den Rezensent:innen. Bei den Leser:innen ist er noch nicht ganz an seinem richtigen Platz. Ich könnte mir vorstellen, dass es am Umschlag der französischen Übersetzung liegt. Während die Originalausgabe mit ihrer abstrakten und reduzierten Titelvignette eine Offenheit zulässt, weckt der französische Umschlag mit dem klassizistischen Porträt eines Kleinkinds ganz andere Leseerwartungen. Grosses Echo hat Klaus Merz aber sicher bei vielen Schulklassen ausgelöst mit seiner Art, über die eigene Kindheit und diese welthaltigen Themen zu sprechen.

 

Das vollständige Gespräch ist als Video in der Ausstellung «Merz Welt» zu sehen: Galerie Litar Zürich, 13. September bis 29. November 2025.

 

Marion Graf

Marion Graf (*1954) hat in Basel, Lausanne, Woronesch und Krakau russische, spanische und französische Literatur studiert. Sie ist die französische Übersetzerin u. a. von Robert Walsers und Klaus Merz’ Werk. Für ihre Tätigkeit als Übersetzerin vom Deutschen und Russischen ins Französische wurde sie mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Schweizer Spezialpreis Übersetzung. Zudem ist sie Literaturkritikerin und war von 2010 bis 2023 verantwortlich für die Revue de Belles-Lettres. Sie lebt und arbeitet in Schaffhausen.

Video Still Susanne Schmetkamp

Video-Beitrag von Susanne Schmetkamp für die Ausstellung «Merz Welt» in der Galerie Litar Zürich. Video Still: Noah Frey. 

 

«Jakob schläft» – eine fast magische Erfahrung

Die Philosophin Susanne Schmetkamp spricht über ihre Faszination für «Jakob schläft» und zeigt auf, wie aktuell die Gestaltung von Krankheit und Tod in diesem kurzen Roman für die heutige Zeit ist.

 

Was fasziniert Sie an diesem kurzen Roman?

Die Lektüre war eine wundervolle und fast magische Erfahrung. Mich fasziniert die Atmosphäre, die dieser Text entfaltet, nicht nur beim Lesen, sondern auch im Nachwirken. Ich hatte dabei eine ungewöhnliche ästhetische Erfahrung, denn sie hatte etwas Ganzheitliches und Abgerundetes, jedoch auch etwas Krisenhaftes und Elliptisches an sich – sowohl inhaltlich als auch formal.

Sie beschäftigen sich als Philosophin mit Empathie, Tod und Trauer. Wie werden diese existenziellen Themen in «Jakob schläft» gestaltet?

Durchaus ambivalent. Zum einen sind Krankheit, Tod und Trauer sehr präsent im Text, zumal die Familie Renz tragische Schicksale erleidet: Jakob, der ältere Bruder des Ich-Erzählers, stirbt bei der Geburt, und der jüngere Bruder, Sonne, kommt mit einer körperlichen Beeinträchtigung zur Welt. Zugleich lebt die Familie in einer Zeit, in der Krankheit und Tod eher ausgeklammert wurden. So wird etwa das verstorbene Kind, Jakob, auf dem Kreuz nur «Kind Renz» genannt. Mit dem Namen des anderen Bruders, «Sonne», suggeriert der Text allerdings, dass Krankheit und Tod im Dorfleben der 1950/60er Jahre doch auch einen Ort erhalten und die Familien erschüttert haben.

Darüber hinaus ist die Mutter depressiv und bleibt weitgehend im Schatten, was ihre Betroffenheit insofern stimmig wiedergibt. Der Vater wirkt auf mich auch nachdenklich. Er bewahrt aber trotz aller Rückschläge eine Zuversicht und einen Hauch von Humor, obwohl er selber an Epilepsie erkrankt ist. Dies alles  – das Verhältnis des Erzählers zu seiner Familie, aber auch das des Autors zu seinen Figuren – ist von Liebe und Einfühlsamkeit geprägt. Es verleiht dem Schrecklichen trotz allem viel Ruhe.

Was macht den Text aktuell?

Der Text ist für mich zeitlos und historisch zugleich. Für unseren heutigen Umgang mit Trauer und Tod finde ich es enorm hilfreich, darüber nachzudenken, wie in anderen Jahrzehnten Menschen mit diesen Themen umgegangen sind. Wie der Tod zum Beispiel den Erzähler als heranwachsenden Jungen geprägt hat. Der elliptische Stil des Romans spielt dabei eine grosse Rolle. Es gibt viele Auslassungen – manches wissen wir nicht, wir erfahren fast mehr über den Alltag des Jungen. Für die heutige Zeit ist die Frage relevant:  Wie gehen Kinder und Geschwister mit dem Tod um? Die Akzeptanz des Todes innerhalb der Familie, wie sie in «Jakob schläft» dargestellt wird, ist für mich sehr anschlussfähig und damit auch aktuell.

 

Das vollständige Gespräch ist als Video in der Ausstellung «Merz Welt» zu sehen: Galerie Litar Zürich, 13. September bis 29. November 2025.

 

Veranstaltung

Lesung und Gespräch mit Klaus Merz und Susanne Schmetkamp am Donnerstag, 30. Oktober 2025 um 19.30 im Literaturhaus Zürich.

Susanne Schmetkamp

Empathie, Tod und Trauer sind Themen, mit denen sich Susanne Schmetkamp (*1977) seit vielen Jahren auseinandersetzt – als Philosophin und Assistenz-Professorin an der Universität Fribourg sowie als Mutter von zwei verstorbenen Kindern. Neben ihrer akademischen Tätigkeit arbeitet sie auch als Moderatorin und Autorin.

Video Still Mariann Bühler

Video-Beitrag von Mariann Bühler für die Ausstellung «Merz Welt» in der Galerie Litar Zürich. Video Still: Noah Frey. 

 

Die ganze Welt zumuten

Die Autorin Mariann Bühler erzählt, wie die Begegnung mit Klaus Merz als Schülerin ihr das eigene Schreiben möglich gemacht hat. In «Jakob schläft» wurde ihr zum ersten Mal «die ganze Welt zugemutet».

 

Was fasziniert Sie an «Jakob schläft»?

Beim Wiederlesen nach vielen Jahren ist mir vor allem die Fülle aufgefallen, die der Text in seiner Kürze hat. Die Fülle an Figuren, Stimmungen und Themen … wie der Text bearbeitet ist im allerbesten Sinne, wie die Worte auf ihre Bedeutungen abgeklopft werden und miteinander in Beziehung treten. Da entsteht ein Resonanzraum, eine Choreografie, die etwas in Bewegung bringt, sich fast wie etwas Lebendiges verhält und alles zu einem Ganzen verbindet, in das ich tief eintauchen kann.

Hat Klaus Merz Sie als Autorin inspiriert?

Auf jeden Fall, «Jakob schläft» war das erste Buch, in dem mir die ganze Welt zugemutet wurde. Gleichzeitig kannte ich diese Welt, das Dorfleben, bereits. Ein Schlüsselmoment für mich war eine Lesung von Klaus Merz an meiner Schule. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, dass die Autor:innen, deren Bücher ich lese, in der gleichen Welt leben wie ich. Das Schreiben ist erst dann überhaupt möglich für mich geworden.

Gibt es Bezüge zwischen Ihrem Debütroman «Verschiebung im Gestein» (2024) und «Jakob schläft»?

Ja, einerseits ist der Handlunsgort, dieser ländliche Raum, sehr ähnlich, auch wenn einige Jahrzehnte dazwischen liegen. Auch die Figuren sind auf eine gewisse Weise verwandt – in beiden Büchern kommt ein Jakob in einer Bäckerei vor, allerdings sind diese Figuren sehr unterschiedlich. Die Art, wie sich Klaus Merz seinen Figuren annähert, erklärt mir auf eine gewisse Weise, wie ich mich meinen Figuren annähern möchte.

  

Das vollständige Gespräch ist als Video in der Ausstellung «Merz Welt» zu sehen: Galerie Litar Zürich, 13. September bis 29. November 2025.

 

Mariann Bühler

Mariann Bühler (*1982) ist Autorin und Literaturvermittlerin. Ihr erster Roman «Verschiebung im Gestein» (Atlantis Literaturverlag) war für den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert. Aktuell hat sie mit Tabea Steiner das Projekt «brüten wir die welt neu aus» zu Verena Stefan «50 jahre häutungen» konzipiert:
www.verenastefan.ch

 

Fotoporträt einer jenischen Familie

Klaus Merz und Christa Baumberger in der Ausstellung «Merz Welt», Galerie Litar, 12.09.2025. Foto: Jairo N'tango. 

 

VON SCHWERE LEICHT – Gespräch mit Klaus Merz

Ein Gespräch über die Anfänge und das Ende, das Meisterwerk «Jakob schläft» und die Beziehung zum Dichterbruder Martin Merz. Das Gespräch führte die Kuratorin Christa Baumberger.

 

Sie sind dieses Jahr achtzig geworden. Können Sie sich erinnern, wann Sie begonnen haben, zu schreiben?

Ich begann bereits im Lehrerseminar zu schreiben. Lesen half mir, die Welt etwas vertrauter zu machen, und ich bemerkte, dass das eigene Benennen der Dinge eine weitere Möglichkeit darstellt, der existenziellen Fremdheit entgegenzutreten: Was einen Namen hat, ist uns nicht mehr ganz fremd. Macht weniger Angst, wird nah- und begreifbarer.

International bekannt wurden Sie 1997 mit «Jakob schläft». Das Buch – «Eigentlich ein Roman» – ist eng mit der Familiengeschichte verwoben und doch nicht autobiografisch. Es handelt von einer Familie mit drei Kindern, von denen eines bei der Geburt verstorben ist und ein zweites mit einer Beeinträchtigung zur Welt kam. Auch Ihr Bruder Martin Merz (1950–1983) hatte einen Hydrozephalus.

Bereits im Seminar meinte ein Kollege, dass ich mit meiner Biografie und meinem familiären Hintergrund geradezu dafür prädestiniert sei zu schreiben, der Stoff liege ja auf der Hand. Doch man muss warten können. Von Elsbeth Pulver stammt das Diktum, dass viele Autorinnen und Autoren ihr Familiensilber viel zu früh verscherbeln, indem sie bereits Anfang zwanzig einen autobiografischen Roman schreiben.

Sie warteten fast dreissig Jahre bis zu «Jakob schläft» …

Ja, dann erst war die Sprache da, um diesen Stoff zu packen. Zu dem Zeitpunkt waren bereits alle meiner Herkunftsfamilie verstorben, und ich als Erzähler war befreit von der Verpflichtung, sogenannt faktentreu zu beschreiben. Nur «wahrheitsgemäss», das sollte es sein. Schreiben braucht Zeit, und es hat etwas mit erdauern zu tun.

Wie wäre «Jakob schläft» herausgekommen, wenn Sie den Text in jungen Jahren geschrieben hätten?

«Jakob schläft» mit zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren geschrieben – das wäre zwar durchaus denkbar gewesen, wäre wohl aber eher ein Lamento geworden, dramatischer, tragischer, spannender vielleicht. Aber der «Klang» der Erzählung wäre noch nicht derselbe gewesen. Der Warteprozess und die verschiedenen frühen Texte dienten dazu, den Stoff langsam ins Exemplarische zu wenden.

Sie standen Ihrem jüngeren Bruder sehr nahe, und Martin Merz hat ebenfalls Gedichte geschrieben («Gedichte eines Kindes», 1968; «Zwischenland», 1983 / 2003). Können Sie etwas zu dieser besonderen Bruder-Dichter-Beziehung sagen?

Martin kam mir immer vor wie ein «Findling» in dieser Welt. – «Köpfe alter Menschen / liegen quer / in meinem Innern», heisst es in einem seiner Gedichte. – Auch mir ist er bis heute ein mir «Eingeborener» geblieben, nah und rätselhaft zugleich.

«Jakob schläft» spielt in den 1950er Jahren in einem Dorf. Zwei Dinge öffnen diese kleine Welt radikal: der Blick ins Weltall und der Landessender Beromünster (Deutschschweizer Rundfunkanlage). Welche Bedeutung haben diese zwei Dinge für Sie?

Es war Mutters Gespür für das Schöne, das uns nährte, und Vater, der unsere Blicke – weit über die kleine innerfamiliäre Schicksalsgemeinschaft und sein tägliches Brot hinaus – immer wieder auf Orion und den Grossen Wagen am nächtlichen Himmelszelt hinlenkte. Und auf den nahen Landessender Beromünster, über den die grosse weite Welt zu uns ins Wynental hereinfand.

Zum Schluss die Frage: Welche Bedeutung hat für Sie das Ende?

Das Ende – als Angst oder Trost, Zuversicht oder Schrecken – war mir von Anfang an vertraut. Aufgrund meiner Familiengeschichte bin ich mit Krankheit und Tod früh konfrontiert worden. Vielleicht dachte ich deshalb beim Schreiben oft: Dies könnte dein letztes Buch sein. Bei «Latentes Material» ging mir durch den Kopf: «Nun bist du schon 33 Jahre alt, jetzt musst du noch einmal den Sack zuschnüren, noch einmal sagen, was dir zu sagen möglich ist.» Dasselbe bei «Jakob schläft», bei den Erzählungen, bei «Los» oder «Der Argentinier» bis zu «Aus dem Staub» …

Das ganze Gespräch mit Klaus Merz können Sie nachlesen in: Edition Litar 06 «Merz Welt».
Bezug: info@litar.ch  |  8.– CHF (zzgl. Versandkosten)

 

Klaus Merz

Klaus Merz wurde 1945 in Aarau geboren und ist im Wynental (Kanton Aargau) aufgewachsen. Sein Werk umfasst mehr als dreissig meist schmale Bücher, hauptsächlich Gedichte und Kurzprosa. Klaus Merz ist ein Sprachverdichter und -künstler, ein Meister der Andeutung und des Lakonischen. Für sein Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, zuletzt 2024 den Grand Prix Literatur, die höchste Literaturauszeichnung der Schweiz.

Christa Baumberger

Christa Baumberger ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Kulturpublizistin und Kuratorin. Sie schreibt und gibt Bücher heraus, zuletzt «Die Korber-Chronik» von Albert Minder (Chronos 2025). Sie hat die Ausstellung «Merz Welt» kuratiert und leitet seit 2018 die Stiftung und Galerie Litar.

Fotoporträt einer jenischen Familie

Eröffnungsrede «Merz Welt» von Manfred Papst, Galerie Litar, 12.09.2025. Foto: Jairo N'tango.

 

Epiphanien des Alltags

Kleine Rede auf Klaus Merz zur Eröffnung der Ausstellung «Merz Welt»,
Galerie Litar Zürich, 12. September 2025

Von Manfred Papst

 

Auf der Einladung der Galerie Litar zur Ausstellungseröffnung sehen wir eine etwas unscharfe Farbfotografie aus dem Jahr 1971: Klaus Merz und sein Bruder Martin stehen am Strand im südfranzösischen Aigues-Mortes. Der Schnappschuss führt direkt zum Thema der Ausstellung «Merz Welt» und ruft eine Beziehung in Erinnerung, die für Klaus Merz wie für sein Schreiben prägend war. In seinem Meisterwerk Jakob schläft, das im Zentrum der von Christa Baumberger kuratierten Schau steht, hat sie ihre dichterische Ausformung gefunden. In der autobiografischen Erzählung «Querfahrt», die Klaus Merz 1994 in den Band Am Fuss des Kamels aufgenommen hat, lesen wir: «Der Bruder schlief, als wir ankamen, sein modelliertes Köpfchen lag auf dem weissen Kissen und wusste nichts von sich selbst. Auch ich sah nicht, was ich wusste. Das Wort Wasserkopf hat uns das sachdienliche Leben erst später beigebracht.»

Diese unheimlichen Sätze finden sich drei Jahre später fast unverändert im 5. Kapitel von Jakob schläft wieder. Sie sprechen von Martin Merz (1950–1983), dem fünf Jahre jüngeren Bruder des Dichters. Eine innige, geheimnisvolle Beziehung, vielfältig wirksam auch über den Tod des Jüngeren hinaus, verband die beiden Brüder, die in Menziken im aargauischen Wynental aufwuchsen. Martin lernte trotz seiner schweren Beeinträchtigung lesen und schreiben (nicht aber gehen und rechnen) und verfasste schon als Halbwüchsiger selbst Gedichte. Immer wieder ist Klaus Merz auf Martin (der im Roman «Sonne» heisst) zurückgekommen, immer wieder hat er sich für dessen schmales Werk eingesetzt: als gälte es, eine späte Dankesschuld abzutragen und Zeugnis abzulegen von einem so erschütternden wie beglückenden gemeinsamen Leben.

Im Abstand von zwanzig Jahren hat er das Werk des Bruders zweimal herausgegeben; zuletzt 2003 unter dem Titel Zwischenland, im Innsbrucker Haymon Verlag, der auch sein eigenes Oeuvre betreut. Die Texte von Martin Merz bewegen sich vom Engen ins Weite. Sie sprechen aus dem Inneren einer Familie, auf die sich früh schon Kummer legte. Wir sind darüber unterrichtet:

Ein erstes Kind – der schlafende «Jakob» im Buch – wurde tot geboren, den Vater begannen epileptische Anfälle heimzusuchen, und dann kam auch noch der jüngste Sohn mit einer schweren neurologischen Erkrankung zur Welt. «Hydrozephalus» hiess der Terminus technicus für das Unglück. Aus Spitalaufenthalten, Operationen, Privatunterricht, Fortbewegung im Rollstuhl bestand fortan der Alltag. Lektüre wurde wichtig, auch das Radio: Hörspiele, Lesungen, Schlager. Die Schallplatten mit Märchen konnte der Bub alle auswendig. Als etwa Zehnjähriger kam er in die Heilpädagogische Sonderschule Reinach. Das Leben zu Hause entfaltete seine eigene Dynamik: Indem die Familie sich um das Sorgenkind kümmerte, wuchs sie zusammen – wobei das Leben im Magnetfeld des Bedürftigen nicht einfach war und der Bruder sich auch an Zustände ohnmächtiger Wut erinnert. Ein befreundeter Velomechaniker konstruierte ein Dreirad, auf dem Martin, den seine Füsse nicht trugen, sich fortbewegen konnte, eingeschirrt in ein «Gestältli» und in Obhut einer Begleitperson. Im 20. Kapitel von Jakob schläft verunfallt er auf diesem Gefährt.

Sie alle kennen die weitere Geschichte: Klaus wurde Lehrer, Schriftsteller, Familienvater, liess sich in Unterkulm nieder. Die ersten Gedichtbände der Brüder waren fast gleichzeitig erschienen: Klaus’ Gedichte Mit gesammelter Blindheit 1967 im Tschudy Verlag, Martins Gedichte eines Kindes nur ein Jahr später bei Fretz & Wasmuth. 1971 reiste Martin mit Klaus und dessen junger Frau Selma nach Südfrankreich, in einem Renault 4. Bei Aigues-Mortes, ging er, gestützt vom Bruder, einige Schritte im Meer. Da sind wir wieder beim eingangs erwähnten Bild. In den folgenden Jahren verschlimmerte sich Martins Leiden, doch lebte er länger, als die Ärzte erwartet hatten. Nach dem Tod der Mutter (1980) stand er unter der Obhut des Vaters; im Frühjahr 1982 kam er ins «Lindenfeld» Suhr. 1983 schloss sich sein Lebenskreis.

Von Abschied, Tod, Vergänglichkeit ist bei Klaus Merz viel die Rede, aber auch immer wieder von der Schönheit der Welt in ihrer steten Gefährdung. Er wagt – ohne Tremolo, dafür mit zärtlicher Akribie – etwas, das seit Jahrtausenden die Aufgabe der Dichter ist, auch wenn wir das grosse Wort mittlerweile scheuen: Er feiert das Dasein.

 

Manfred Papst 

Manfred Papst (*1956 in Davos) studierte in Zürich Sinologie, Germanistik, Kunstwissenschaft und Geschichte. Von 1989 bis 2021 war er für das Haus NZZ tätig, erst als Programmleiter des Buchverlags, dann als Ressortleiter Kultur der NZZ am Sonntag, für die er weiterhin schreibt.

 

Die vollständige Eröffnungsrede von Manfred Papst können Sie hier nachlesen.