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Ein Blick hinter die Kulissen einer Literaturausstellung und darüber hinaus: In unregelmässigen Abständen vertiefen Autor:innen, Studierende und weitere Beteiligte in diesem Blog ausgewählte Inhalte der Galerie Litar. Ein vielstimmiger Raum, wo die verschiedenen Fäden einer Ausstellung zusammenlaufen.
Arme Schweiz – Lika Nüssli und Albert Minder erzählen

Albert Minder mit Velosolex vor seinem «Dichterhäuschen», Burgdorf 1951. Museum Schloss Burgdorf, Sammlung Rittersaalverein. Foto: Andreas Marbot.
Ausgesöhnt
von Svenja Herrmann
Steht jene Traumgestalt am Dichterhäuschen
das Stück Land so ein Ankommen
kein Herumgeschubse oder Fortjagen mehr
verwunderte Blicke fallen
auf die Drachengesichter aus Stein
auf die Worte an der Hauswand
ein Licht
trotz allem
die ganze Reise lang
eingefangen in dem dichten Geflecht der Körbe
mit Generationenhänden
gebändigt die Ruten und Zweige
vielleicht lag einmal eine Hand auf der Schulter
im richtigen Moment
schwer aber aufrichtend
auch im Graben unter Gelächter Vorübergehender
jenes Licht
jene Traumgestalt
Das Gedicht «Ausgesöhnt» steht in einem Dialog mit dem untenstehenden Gedicht «Das Dichterhäuschen» von Albert Minder und mit den bewegenden Episoden aus seiner «Korber-Chronik».
Das Dichterhäuschen
von Albert Minder
Sein Häuschen steht am Schönenbühl
Wie ein ganz kleines Sinngedicht
Denn ein grossart’ges Herrenpfühl
Und eine Villa ist es nicht.
Es ist ein kleines Bretterhaus
Umrahmt von bunten Kieselstein,
Und der da gehet ein und aus,
Wird auch kein reicher Feger sein.
Recht typisch steht am Häuschen dort
«Entschwebend» jene Traumgestalt
Der armen Maler ein Wort
Vom selben Dichter hingemalt.
Der Spruch der «warnt», im Häuschen hat's
Hier weder Gold noch Edelstein;
«Nur geistig Gut – «ein wahrer Schatz» –
Wird einzig hier zu finden sein.
Denn heimatlose Korber sind
Und waren wirklich nie verwöhnt.
Doch trotz dem Regen und dem Wind
Ist der nun endliche ausgesöhnt!
Ein paar Zeilen zum Dichterhäuschen:
«Albert Minder musste alt werden, bis er im eigenen Haus wohnt: In seinen Berufsjahren kommt er bei seinem Bruder unter, am Alten Markt 6 in Burgdorf. Erst nach der Pensionierung 1948 pachtet Albert Minder von der Burgergemeinde für hundert Franken im Jahr ein Stück Land. Am Stadtrand von Burgdorf, am Schönebüeli, lässt er sich eine Holzbaracke bauen: sein «Dichterhäuschen». Er verziert Aussen- und Innenwände mit eigenen Gedichten, rund ums Häuschen legt er einen bunten Wall mit Steinen aus der Emme an. Auch die Steine beschriftet er oder bemalt sie mit Drachenköpfen. Bis ins hohe Alter ist das Dichterhäuschen Albert Minders Daheim. Dort plaudert er mit seinen Freunden über Gott und die Welt.»
Quelle: Schloss Burgdorf, Ausstellung, Themenräume
«Minders Dichterhäuschen wird Anfang der 1960er-Jahre Treffpunkt nonkonformistischer Kreise», wie Christa Baumberger in der von ihr und Nina Debrunner neu herausgegebenen Chronik schreibt und eine schöne Erinnerung von Martin Schwander zitiert: «(...) Das Häuschen glich eher einer Baracke als einem Haus. (...) Beim Eintreten stand man sofort im Wohnraum, der ganz voll war mit Büchern. Hauptsächlich junge Menschen kamen zu ihm (Albert Minder), denn die Gespräche waren sehr interessant, man diskutierte über Gott und die Welt, und erzählte auch aus seinem eigenen Leben. (...) Das Häuschen wurde abgerissen und kaum etwas mehr erinnert an den eigenwilligen Burgdorfer.»
Umso wertvoller ist es, dass die Korber-Chronik im Chronos Verlag neu erschienen ist!
Quelle: Albert Minder, Die Korber-Chronik. Hg. v. Christa Baumberger und Nina Debrunner, Zürich, Chronos Verlag 2025, S. 113 und 197.
Svenja Herrmann
Svenja Herrmann ist Lyrikerin und Poesievermittlerin. Mit schreibstrom.ch engagiert sie sich für Kinder und Jugendliche. Ihre Gedichtbände «Ausschwärmen» und «Die Ankunft der Bäume» sind im Wolfbach Verlag («Die Reihe») erschienen. Zwei Anthologien zu den Menschenrechten, die sie zusammen mit der Schriftstellerin Ulrike Ulrich herausgegeben hat, versammeln namhafte Schweizer Autor:innen, die literarisch auf die Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte reagieren. Die Bücher sind im Salis Verlag erschienen.
Svenja Herrmann lebt und arbeitet in Zürich, wo sie sich für den Menschen und die Poesie einsetzt – schreibend, herausgebend und vermittelnd.
svenjaherrmann.ch
schreibstrom.ch

Ausstellungsansicht «Arme Schweiz – Lika Nüssli und Albert Minder erzählen», Galerie Litar. Foto: Nakarin Saisorn.
Repräsentation von Armut im Raum
Ein Gespräch mit Christa Baumberger, Kuratorin der Ausstellung «Arme Schweiz»,
Interview von Madeline Kroeker, 22.02.2025
In der Galerie Litar ist aktuell eine Ausstellung zur Armut in der Schweiz, vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, zu sehen. Die Ausstellung ist in zwei Räumen aufgeteilt, einen zu Lika Nüsslis Graphic Novel «Starkes Ding» (Edition Moderne, 2022) und einen zu Albert Minders «Korber-Chronik» (Chronos, 2025).
In einem Interview spricht die Kuratorin Christa Baumberger über die Entstehung der Ausstellung, die literarische Repräsentation von Armut und die Wichtigkeit, das Thema Armut auch in der Gegenwart zu diskutieren.
Mit welchem Begriff der Armut arbeitet die Ausstellung?
Das ist keine einfache Frage, denn am Anfang stand nicht fest, dass es eine Ausstellung über Armut wird. In Minders «Korber-Chronik» ist der Begriff der Heimatlosigkeit sehr zentral, doch als Nina Debrunner und ich mit der Neuedition der Chronik begannen, stellten wir bald fest, dass es eine Geschichte der Armut in der Schweiz im 19. Jahrhundert ist. Und als ich für die Ausstellung Albert Minder mit Lika Nüssli kombinierte, die durch ihren Vater in die Geschichte der Verdingkinder in der Schweiz eingetaucht ist, wurde «Armut» zum roten Faden. Aber weil die beiden in so unterschiedliche Epochen und Gewaltgeschichten hineinführen, finde ich es schwierig zu sagen: Das ist der Begriff von Armut, den wir hier ansprechen.
Für die Ausstellung hat Lika Nüssli Sprechblasen auf den Wänden gemalt, welche als «künstlerische Intervention» bezeichnet werden. Was ist damit gemeint?
Der Begriff der Intervention suggeriert einen Eingriff, denn es sind nicht nur schöne Bilder an der Wand. Die gemalten Sprechblasen finde ich sehr spannend, weil sie immer nur Schnipsel von Debatten und Diskursen wiedergeben. Nehmen wir etwa den Moment der Verdingung, in dem über den Preis des Kindes verhandelt wird: Es genügen drei kleine Sprechblasen und man ist mittendrin, auch in der Grausamkeit dieser Situation. Wenn ich Literatur ausstelle, geht es immer um die Frage: Wie bringe ich Sprache in den Raum? Lika Nüssli gelingt es mit diesen Sprechblasen unglaublich gut. Hat sie die Galerie Litar bemalt, ausgemalt? Nein, es ist für mich ein Vorantreiben dieses ganzen Diskurses um Verdingung und die Frage, wie spätere Generationen damit umgehen. Ich finde «Intervention» einen schönen Ausdruck dafür.
Es fällt auf, dass Lika Nüssli die Realitäten ihrer Familiengeschichte nicht beschönigt, aber trotzdem auf kunstvolle Weise darstellt. Wie kombiniert die Ausstellung diese beiden Aspekte?
Mein Ziel war, dem künstlerischen Anspruch, den Lika Nüssli in ihrer Graphic Novel selbst hat, möglichst gerecht zu werden. Wir haben diesen Raum im engen Dialog miteinander entwickelt. So hat sie etwa die Originalzeichnungen aus der Graphic Novel selbst gewählt. Dabei hat sie bewusst Kontraste gesetzt, zwischen grausamen und schönen Szenen. Auch die Graphic Novel als Ganzes ist so, sie ist nicht nur düster, sondern enthält auch heitere Szenen. Das ist eine ganz wichtige Qualität dieses Textes, dass alles drin ist, auch die Resilienz – ein weiterer zentraler Begriff für mich, der auch bei Minder stark durchscheint. Die Ausstellung soll nicht nur das Künstlerische, sondern auch die Vielschichtigkeit des Themas zum Ausdruck bringen.
Mit Lika Nüssli waren Sie in engem Kontakt, aber bei Albert Minder ist diese Option natürlich nicht vorhanden. Wie sind Sie vorgegangen, Informationen zu Minder zu finden?
Bei Minder war es ein langer Rechercheprozess, rund drei Jahre. Von ihm gibt es keinen Nachlass, er hat jahrzehntelang in Burgdorf gelebt und nach seinem Tod musste sein Haus sehr rasch geräumt werden. Über Umwege kamen einige Kisten in die Sammlung vom Schloss Burgdorf, die ich sichten konnte. Darüber hinaus konnte ich auch noch mit Zeitzeugen sprechen, die unterdessen alle betagt sind und mir von ihren Erinnerungen an Minder erzählten.
Und wie haben Sie entschieden, welche Szenen aus der «Korber-Chronik» in die Ausstellung kommen?
Es ist eine Familiengeschichte: Minder beginnt mit der Urgrossmutter, führt weiter zu den Grosseltern und Eltern und endet mit seiner Jugendzeit. Ich wollte diese Genealogie anschaulich machen. Minder geht auch auf verschiedene Aspekte der Armut ein: Fabrikarbeit, verarmte Bauern oder Frauenarmut, die Ausbeutung von Müttern und Kindern. Und trotzdem hat die Chronik einen positiven Schluss, und das finde ich schon erstaunlich. Es ist eine ähnliche Grundhaltung wie bei Lika Nüsslis Vater. Bei beiden dringt Stolz durch: Ich habe es geschafft, ich habe mein Leben gemeistert. Ich finde das berührend und wollte diese Haltung auch zeigen.
Das habe ich auch bei Minder gemerkt. Er ist nicht abgehoben; es geht darum, allen anderen eine Stimme zu geben.
Ich glaube, das triffts wirklich. Es war sein Lebensprojekt, seine Familiengeschichte zu sichern und diesen «unbedeutenden» Leuten, die zeitlebens nie gehört wurden, eine Stimme zu geben. Und zwar eine Stimme, die auch zu ihnen passt. Es ist wirklich ein polyphones Buch, alle haben ihren eigenen Akzent und ihre eigene Sprache, aber Minder macht sich auch über niemanden lustig. Jede Person bewahrt ihre Würde und erhält dadurch etwas Unverwechselbares. Ich finde, da ist ihm etwas Wichtiges und auch Schönes gelungen.
Was hoffen Sie, dass das Publikum von der Ausstellung mitnimmt?
Bestenfalls kann die Ausstellung eine Anregung sein, sich weiter mit diesen Themenfeldern auseinanderzusetzen. Dann wäre der Zweck der Ausstellung schon mehr als erfüllt. Wir wollen aber auch den Sprung in die Aktualität schaffen, deshalb hat Nicole Schmid für die Edition Litar mit Sandra Brühlmann, einer armutsbetroffenen Person, über die heutige Situation von Armut gesprochen. Die Ausstellung hat zwar einen historischen Fokus, aber sie führt auch ins Hier und Heute, in die reiche Schweiz, wo Armut verbreitet aber wenig sichtbar ist. Diese Sichtbarkeit zu vergrössern, das Sprechen und die Reflexion darüber anzutreiben, auch mit unserem Rahmenprogramm, ist uns sehr wichtig.
Madeline Kroeker
Madeline Kroeker studiert Englisch und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Das Interesse für Bücher hat Madeline Kroeker zur Auseinandersetzung mit Fragen geführt, wie Literatur mit Machtverhältnissen verbunden ist und wie sie soziale Normen legitimieren oder widersprechen kann. Der Fokus liegt dabei auf Kolonialismus und den gegenwärtigen Konsequenzen, aber auch auf Themen wie Gender, Queerness und kapitalistische Machtstrukturen.
Bild links aus «Starkes Ding» © 2022 Edition Moderne / Lika Nüssli; Bild rechts aus «Une Enfance de paille» © 2023 Atrabile pour l’édition française.
Die Übersetzung als Vermittlung: der Fall «Starkes Ding» von Lika Nüssli
Workshop zur literarischen Übersetzung mit Camille Logoz
Die Diskussion über Übersetzung ist eine alte Debatte: Einerseits gibt es diejenigen, die eine treue und wortwörtliche Wiedergabe des Textes befürworten; andererseits gibt es die, die einen freieren und kreativeren Ansatz bevorzugen, der auf eine literarische und nicht wortwörtliche Übersetzung des Textsinns abzielt. Die Übersetzung wird somit zu einer Suche nach einer Begegnung auf Augenhöhe, die als ein kulturelles Paradigma schliesslich auch einen Dialog mit dem Fremden eröffnet.
Gerade die literarische Übersetzung steht im Mittelpunkt des Workshops mit Camille Logoz, der Übersetzerin der französischen Version der Graphic Novel «Starkes Ding» von Lika Nüssli (Edition Moderne, 2022), veröffentlicht unter dem Titel «Une Enfance de paille» (Atrabile, 2023). Das Werk erzählt die Geschichte von Ernst, dem Vater der Autorin, der als Verdingkind bei einer fremden Bauernfamilie im Toggenburg schwer arbeiten musste. Während die aktuelle Ausstellung in der Galerie Litar das Thema Armut in der Schweiz anhand von Lika Nüsslis Werk und der kürzlich neu edierten «Korber-Chronik» von Albert Minder (Chronos, 2025) beleuchtet, rückt der Workshop mit Logoz die sprachlichen und regionalen Reichtümer der Übersetzung dieser Graphic Novel in den Fokus.
Doch das bringt auch einige Schwierigkeiten mit sich. Die ersten Herausforderungen treten bereits auf, noch bevor man in die Seiten des Buches eintaucht: Logoz bleibt gleich beim Titel des Werkes stecken. «Starkes Ding»: ein Ding, unpersönlich, entmenschlichend, schwer zu beschreiben. Aber vor allem auf die Anspielung auf das Wort «Verdingkind» kommt die Übersetzerin zu sprechen, die im Deutschen so gut funktioniert, im Französischen aber verloren geht. Es sei schwierig, eine wortwörtliche Übersetzung zu finden. Sie entscheidet sich für eine Entfernung vom Original. Sie wählt eine Lösung, die keine blosse semantische Äquivalenz erzeugen will, sondern eine Neuinterpretation, die die evokativen und vielschichtigen Dimensionen dieser schwierigen und mit Brüchen versehenen Lebensrealität auf dem Land bewahrt: «Une Enfance de paille», was sich im Deutschen als «Eine Kindheit aus Stroh» übersetzen liesse.
Dann schlägt man das Buch auf und taucht in die Seiten ein, in die Illustrationen von Lika Nüssli und die Texte, die in der anderen Sprache eine neue Form finden müssen. Das Genre des Werkes, die Graphic Novel, stellt zwei zentrale Herausforderungen: das Verhältnis zur Mündlichkeit – in dem die Onomatopöien eine entscheidende Rolle spielen – und die Interaktion mit den Illustrationen. Eine der unerwarteten Schwierigkeiten betrifft die Übersetzung der Eigennamen der Tiere, die in Ernsts Leben eine wichtige Rolle spielen und deren Namen ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln sollen. Die Namen sollen sich also auch in der französischen Version möglichst vertraut anhören. So wird «Bethli» zu «Coquette», «Gurth» wird zu «Dolly», «Wissbuch» zu «Marguerite». Und dann ist da noch der Dialekt, zu dem in der französischen Schweiz eine ganz andere Beziehung besteht als in der deutschen Schweiz. Die Übersetzerin entscheidet sich nicht für einen spezifischen Dialekt, sondern greift auf Begriffe und Wendungen aus verschiedenen Regionen der französischen Schweiz zurück, um den Idiolekt von Ernst nachzubilden.
Über die Bilder wurde wenig gesagt: Logoz gesteht mir, dass sie als Übersetzerin oft alles sagen möchte, vielleicht mehr als nötig, um den Lesern und Leserinnen ein möglichst vollständiges Verständnis zu garantieren. Im Fall einer Graphic Novel schliesst das Bild als zusätzlicher Bedeutungsträger aber oftmals genau die Lücken, die beim Übersetzen auf der Textebene entstehen können.
Der Workshop hat gezeigt, dass die literarische Übersetzung weit mehr ist als eine technische Übung: Sie ist ein Akt der kulturellen Vermittlung, ein Prozess, bei dem jedes Wort ein Universum von Bedeutungen in sich trägt, das mit Sensibilität und Kreativität rekonstruiert werden muss.
Lodovica Casari
Lodovica Casari schliesst derzeit ihr Studium der Italianistik und Sozialanthropologie an den Universitäten Zürich und La Sapienza in Rom ab. Ihr besonderes Interesse gilt der Literatur und Übersetzung im Kontext von Migration, Mehrsprachigkeit und transkulturellen Dynamiken sowie Fragen zu Gender und Intersektionalität in Gesellschaft und Literatur.